Paul Krugman sieht die Finanzkrise als Chance für neokeynesianische Konzepte
Foto: Jeff Zelevansky / Getty Images
Mittlerweile kann man in Großbritannien so viel über die Finanzkrise lesen, und doch finde ich auf die Fragen, die mich am meisten verwirren, keine Antworten. Wenn dem Crash von 2008 angeblich eine Phase beispiellosen Wohlstands vorausging, warum hat dann kaum einer meiner Bekannten in dieser Zeit viel verdient? Wenn die Deregulierung der Finanzmärkte mutmaßlich uns allen zugute kam, weshalb mussten die meisten von uns Kredite aufnehmen, um über die Runden zu kommen? Und jetzt, da sich alle einig sind, dass uns die schlimmste Krise seit der Großen Depression droht: Warum befolgen wir nicht, was aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zu lernen wäre?
Barack Obama ist weltweit der einzige Staatschef, der versucht hat, die Rezession mit einem keyns
inem keynsianischen Stimulierungsprogramm einzudämmen. Weshalb zeigt es nur geringe Wirkung? Und wie ist es möglich, dass Banker und Kreditagenturen nach wie vor mit Samthandschuhen angefasst werden? Offenbar gilt die Devise, bloß die Märkte nicht schrecken, obwohl sie uns die Misere eingebrockt haben?Ich fing schon an, an meinem Verstand zu zweifeln, bis ich im neuen Buch von Paul Krugman End This Depression Now! nicht nur Antworten auf diese Fragen fand. Der Autor erklärt darüber hinaus, wie es dazu kommen konnte, dass wir bei der Krisenbewältigung das Gegenteil dessen tun, was uns Logik und Geschichte lehren.Schulden als SündeAls der Nobelpreisträger jüngst London besuchte, traf er viele Leute, die er als Very Serious People bezeichnete: „Vieles von dem, was sie sagen, klingt sehr vernünftig. Dabei ist alles verkehrt. Aber erstaunlicher Weise entfaltet ihre Orthodoxie, selbst wenn sie scheitert, noch eine ungemeine Wirkung.“Diese Very Serious People stellen das Wirtschaftsgeschehen als Moralität dar, in der Schulden als Sünde schlechthin gelten. Und da wir alle gesündigt haben, müssen wir nun den Preis dafür zahlen und den Gürtel enger schnallen. Sie erzählen uns, es werde lange dauern, bis die Krise überwunden sei. Es bleibe ein langer, entbehrungsreicher Weg. Das Gegenteil davon ist wahr, sagt Krugman. Die Austeritätspolitik stelle eine selbstauferlegte kollektive Bestrafung dar. Nicht nur unnötig, sondern auch sinnlos. „Es wäre unglaublich einfach, diese Depression zu beenden. Warum tun wir es nicht?“Wieder Geld ausgebenKrugman greift auf das Beispiel einer Eltern-Gruppe zurück, die Gutscheine für die stundenweise Beaufsichtigung des Nachwuchses an ihre Mitglieder ausgibt. Wenn alle Eltern gleichzeitig den Entschluss fassen, ihre Gutscheine zu sparen, kommt das System zum Erliegen. „Wenn wir alle versuchen, unseren Verbrauch zu drosseln, reduzieren wir zugleich unsere Einkommen und haben letzten Endes nichts gespart“, ist sich Krugman sicher. „Wir könnten stattdessen mehr Gutscheine verteilen, um die Leute zu ermutigen, mehr davon einzulösen – das entspräche einer quantitativen Lockerung in der Geldpolitik. Wenn aber alle wild entschlossen sind zu sparen, werden die Eltern weiter ihre Gutscheine zurückhalten, und das System funktioniert einfach nicht. Man nennt das eine Liquiditätsfalle, in der wir momentan stecken.“Mit Schulden verhalte es sich ähnlich. An sich seien sie überhaupt nicht schlimm, so Krugman. „Für den Schuldner sind sie eine Verbindlichkeit, für den Gläubiger hingegen eine Anlage. Sie führen nicht notwendigerweise dazu, dass jemand verarmt. Zur Gefahr wird Verschuldung erst dann, wenn viele Leute gleichzeitig gezwungen werden, ihre Schulden zurückzuzahlen.“Was aber für den Einzelnen zutreffe, gelte nicht gleichzeitig für die Gesellschaft als Ganzes. Die Analogie zwischen einem Privathaushalt und einer Volkswirtschaft zu ziehen, sei zwar „verführerisch, da leicht nachvollziehbar“, aber sie verliere ihren Sinn, wenn man sich in einer makroökonomischen Krise wiederfinde. „Wenn die ausbricht, kann sich individuell rationales Verhalten zu einem katastrophalen Ergebnis summieren. Es führt dazu, dass jeder seine Situation zu verbessern versucht, am Ende aber alle schlechter dastehen. Das ist es, was heute geschieht.“In dieser Lage müsse einer damit anfangen, wieder Geld auszugeben. Nach Krugmans Auffassung können das nur die Regierungen sein. „Wir wissen, dass sich hoch entwickelte Volkswirtschaften sehr hoch verschulden können, ohne dass es zu einer Krise kommt. Am besten wissen wir das aus der Geschichte Großbritanniens, das während des 20. Jahrhunderts – inklusive der dreißiger Jahre – wesentlich höhere Schulden hatte als heute.“Lange nichts passiertWas aber ist mit den Anleihe-Märkten? Diese weltweit gefürchteten Buhmänner bestrafen angeblich Regierungen, die es nicht schaffen, ihre Ausgaben zu kürzen, selbst wenn dies ihre Defizite nicht verringert. Ich habe nie verstanden, warum die Märkte sich darum kümmern sollten, wie und wann wir unsere Defizite zurückführen, solange wir unseren Lebensunterhalt bestreiten können. Paul Krugman meint, dass es sie nicht kümmert. „Das ist das Interessante. Tatsächlich ist es den Märkten egal, welche kurzfristige Politik Länder mit einer eigenen Währung verfolgen.“ Die Gefahren einer Abstufung durch eine Rating-Agentur seien wahnsinnig übertrieben worden. Krugman: „Wir haben das 2002 bei Japan gesehen. Das wurde heruntergestuft und nichts ist passiert. Man konnte daher die Vorhersage wagen, das Gleiche werde für die USA gelten, deren Kreditwürdigkeit im Vorjahr von einer Agentur herunter gestuft wurde. Und es stimmte genau. Nichts passierte.“Soweit stellen Krugmans Überlegungen im Grunde eine Neuformulierung keynesianistischer Ideen dar. „Es handelt sich dabei um keine besonders schwer zu verstehenden Konzepte“, sagt der Nobelpreisträger. „Es ist leicht, sie einem Publikum zu vermitteln. Aber offenbar verfangen sie nicht in der Sphäre der Politik.“Das war schon einmal anders. In den Jahren nach der Großen Depression verordneten die Regierungen dem Bankensystem Regulierungen, um sicherzustellen, dass die Banken sich nie mehr so stark verschulden können, dass es zu einer solchen Krise kommt. Krugman: „Die letzte große Wirtschaftskrise ist schon lange her, die Leute werden im Umgang mit Schulden wieder sorgloser und vergessen die Risiken. Banker sagen zu Politikern: 'Wir brauchen diese Regularien nicht mehr' und die Politiker antworten: 'Ihr habt Recht, es ist ja schon lange nichts Schlimmes mehr passiert.'“Diese Entwicklung setzte nach 1980 unter dem Präsidenten Ronald Reagan ein. Eine Regulierung nach der anderen wurde wieder aufgehoben, bis „keinerlei Absicherung mehr vorhanden war und das Finanzsystem zunehmend wilder und verworrener wurde und bereit war, viel Geld zu verleihen“. – Zum Teil wurden Politiker mit dem Argument verführt, die Deregulierung mache uns alle reicher. Und bis zum heutigen Tag, so Krugman, „hält sich der weit verbreitete Glaube, das Wachstum habe sich in beträchtlichem Umfang beschleunigt. Man braucht nur kurz einen Blick in die Statistiken zu werfen und kann sehen – dies stimmt nicht.“Der große BluffWenn wir die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Jahr 2008 in zwei Hälften einteilen, „sehen wir in der ersten eine wirklich dramatische Verbesserung der Lebensstandards, in der zweiten jedoch nicht. Doch wirklich dramatisch war es allenfalls für die obersten 0,02 Prozent der Bevölkerung, deren Einkommen sich um das Siebenfache vergrößert haben. 2006 haben die 25 bestbezahlten Hedgefonds-Manager der USA 14 Milliarden Dollar verdient – das Dreifache dessen, was die etwa 80.000 Lehrer von New York City im gleichen Jahr zusammen verdient haben. Zwischen 1980 und dem Crash von 2008 ist das mittlere Haushaltseinkommen in den USA nur um etwa 20 Prozent gestiegen. Beides ist also vollständig voneinander entkoppelt“, so Krugman.Warum aber behaupten Ökonomen, die Einkommen von Durchschnittsverdienern seien stark angestiegen, wenn das gar nicht stimmt? „Ich glaube“, sagt Krugman, „man muss fragen, mit wem es die Leute, die so etwas behaupten, zu tun haben. In welchem sozialen Umfeld bewegen sie sich? Wenn man in Chicago Wirtschaftswissenschaften lehrt, sind die realen Menschen, mit denen man zusammentrifft, wahrscheinlich Leute von der Wall Street. Und für die liefen die letzten 30 Jahre in der Tat ganz ausgezeichnet.“Irgendwie lächerlichVor der jetzigen Finanzkrise gab es frühzeitige Warnsignale. Etwa die Sparkassenkrise in den achtziger Jahren, die den Politikern die Gefahren finanzieller Deregulierung, subjektiver wie moralischer Risiken und der im Folgenden entstehenden Schuldenspirale hätten bewusst machen sollen. Doch inzwischen hatte der Einfluss der Wall Street die politischen Entscheidungsträger für Alarmglocken taub gemacht. Teilweise lag es daran, dass die Wahlkampfkampagnen vieler Politiker von Bankern finanziert wurden. Krugman zitiert dazu die berühmte Beobachtung Upton Sinclairs: „Es ist schwer, jemanden dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.“ Mehr noch aber – vermutet Krugman – übte der schiere Glamour der reichen Banker Einfluss auf Politiker aus. „Meinem Eindruck nach können Wirtschaftskapitäne ziemlich langweilig sein. Ich bin mir nicht sicher, wie aufregend es ist, mit so jemandem Zeit zu verbringen. Aber die Leute von der Wall Street sind sehr klug und witzig. Es sind keine Typen, die sich hochgearbeitet haben. Sie machen Eindruck.“Selbst Barack Obama sei nicht gefeit vor ihrem Charme. Bei einer Begegnung mit dem Präsidenten und seinem Wirtschaftsteam zu Beginn von dessen Amtszeit seien die „zerzausten, bärtigen Professoren eindeutig nicht so imposant rüber gekommen“. Allerdings hatten sich auch viele zerknitterte Professoren von der neuen Weltwirtschaftsordnung verführen lassen, die den Keynesianismus für überflüssig und irgendwie lächerlich hielt.1970 dann, schreibt Krugman, seien „Debatten über die Irrationalität von Investoren, Finanzblasen oder von destruktiven Spekulationen buchstäblich aus dem akademischen Diskurs verschwunden. Das Feld wurde von der Effizienzmarkthypothese beherrscht, die die Ökonomen überzeugte: 'Wir sollten die nationale Kapitalentwicklung einem – wie Keynes es bezeichnete – Kasino überlassen.' “ Triumphierend sei der Tod des Keynesianismus verkündet worden. In den USA hätten das vor allem republikanische Ökonomen getan, deren Arbeit von Vetternwirtschaft und ihrer politischen Orientierung durchdrungen sei. Nun, vermutet Krugman, würden politische Voreingenommenheit und Standesdünkel sie daran hindern, angesichts des katastrophalen Zusammenbruchs ihrer Theorien zuzugeben, dass sie sich geirrt haben.Jede Menge BrückenSie würden gern, meint Krugman, auf die bedauerlicherweise begrenzte Wirkung des von Obama initiierten Konjunkturpakets in Höhe von fast 800 Milliarden Dollar verweisen, um zu zeigen, dass sie im Recht seien. Dabei sei an diesem Stimulus bloß falsch gewesen, dass er nicht groß genug ausfiel. Beinahe die Hälfte der Summe ging für Steuersenkungen drauf, der Großteil der verbliebenen 500 Milliarden Dollar wurde für Arbeitslosenhilfen und Lebensmittelmarken verwendet. „Für tatsächliche Investitionen in die Infrastruktur braucht man schon mehr als gerade einmal 100 Milliarden. Wenn man beim Begriff Konjunkturprogramm also daran denkt, dass jede Menge Brücken gebaut werden, dann ist das nie geschehen.“In einer Wirtschaft, die jedes Jahr Güter und Dienstleistungen im Wert von 15 Billionen US-Dollar produziere, seien 500 Millionen „einfach keine große Summe.“ Schon 2009 hatte Krugman gewarnt: „Mit einem unausgegorenen Konjunkturpaket diskreditiert man dessen Idee, ohne die Wirtschaft zu retten.“ Genau das, seufzt er, „ist passiert. Ich würde mir wünschen, ich hätte mit meiner Prophezeiung daneben gelegen. Aber leider war sie ein Volltreffer.“
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