Stadion-Katastrophe Mike Bracken wollte am 15. April 1989 im Hillsborough Stadion Liverpool spielen sehen. Er erlebte eine Katastrophe: 96 Fans starben. Das Trauma hält bis heute an
Wer an einer post-traumatischen Belastungsstörung leidet, bewegt sich auf grausame Weise im Kreis. Im British Medical Journal heißt es, ein häufiges Sympton sei der Versuch, „Gedanken an oder das Sprechen über das Geschehene zu vermeiden. Wenn Sie dieses Symptom zeigen, fällt es ihnen möglicherweise schwer um Hilfe zu bitten.“ Die schrecklichste Katastrophe, die sich je in einem britischen Fußballstadion ereignet hat, liegt nun genau zwanzig Jahre zurück und noch immer können viele der Unglücklichen, die an diesem sonnigen Apriltag dabei waren, nicht darüber zu reden. Sogar für diejenigen unter uns, die die ersten Schritte gemacht haben, bleibt es ein schwerer Weg, mit dem zurechtzukommen, was wir gesehen haben.
Immer,
aben.Immer, wenn sich die Katastrophe von Hillsborough auf's Neue jährt, verfolge ich die Berichterstattung in den Medien in der Hoffnung, dass der Heldenmut und Stoizismus derjenigen gewürdigt würden, die damals dabei waren. Sheila Coleman von der Hillsborough Justice Campaign erinnert sich: „Nachdem sie aus den Umzäunungen entkommen waren, wurden aus Fans Retter. Sie trugen die Toten und Verletzten auf Tragen vom Spielfeld, die sie aus den niedergerissenen Zäunen gebaut hatten. Ohne diese heroischen Taten hätte die Zahl der Todesopfer zweifellos höher gelegen.“Ich frage mich, ob die tausenden Überlebenden, die immer noch unter den Folgen leiden, jemals Anerkennung finden werden. Bei dem Unglück starben neunundsechzig Liverpooler Fans, 730 wurden im Stadion und 36 weitere außerhalb der Tore verletzt. „In vielerlei Hinsicht,“ so Coleman,“ sind die Überlebenden der Katastrophe von Hillsborough vergessene Opfer.“Drehkreuze des VerderbensIch war damals schon lange Besitzer einer Dauerkarte für Spiele des FC Liverpool. Die Reise zum Sheffielder Hillsborough-Stadion, wo das Spiel gegen Nottingham Forest stattfand, schien Routine zu sein. Wir parkten eine Meile vom nordöstlichen Ende des Stadions entfernt und machten uns auf, Karten für die mitgereisten Familienmitglieder und Freunde zu ergattern. Neunzig Minuten vor Spielbeginn hatten wir in der Südtribüne eine Karte für meinen Vater bekommen. Ich musste drei Seiten des Spielfeldes entlanggehen, um zu meinen Drehkreuzen zurück zu gelangen und kam unterwegs auch an der gewaltigen, steilaufragenden Tribüne vorbei, auf der die gegnerischen Nottingham Forest-Fans sich versammelt hatten. Unterdessen kamen mehrere hundert Liverpool-Fans auf der Westtribüne, nach der dorthin führenden Zugangsstraße auch Leppings Lane genannt, mit den Stehplätzen zusammen.Ihr Eingang war die Hauptursache für die Katastrophe. Im Zwischenbericht des Lord Oberrichters Taylor hieß es später: „In vielen anderen Spielstätten sind die Drehkreuze in gerader Line und in angemessenen Abständen zueinander aufgestellt und der Wartebereich ist groß genug, dass sich Schlangen bilden können. In der Leppings Lane war dies nicht der Fall ... Die Drehkreuze standen eng beieinander und der Vorplatz bot wenig Raum für die wartende Menschenmenge.“Mehr als eine halbe Stunde vor dem Anpfiff waren die sieben in Betrieb befindlichen Drehkreuze dem Ansturm der Liverpooler Fans nicht mehr gewachsen. Als es dann unmöglich wurde, Warteschlangen zu bilden und hunderte weiterer Fans über den Vorhof auf die Drehkreuze zuströmten, brach mir der Schweiß aus. Ich hatte keine Kontrolle mehr darüber, in welche Richtung ich mich bewegte. Neben mir hatte ein Mann offensichtlich Schmerzen, ein junges Mädchen hatte das Glück, über das Gedränge hinweg gehoben zu werden.Die Polizei reagierte nichtMit jeder Minute wurde meine Angst größer. Ich hatte schon oft Gedränge auf den Weg ins Stadion erlebt, aber diesmal war es anders. Ein berittener Polizist, dessen Pferd sich offenbar nicht mehr durch die Massen bewegen konnte, erntete die Kritik der Fans. Die Polizei wirkte planlos. Es schien inzwischen unvermeidbar, dass Menschen ernsthaft verletzt würden oder noch Schlimmeres geschehen würde. Der Druck stieg. Ich konnte meine Arme nicht mehr bewegen, mein Gesicht wurde gegen ein Metalltor gedrückt. Schwitzend und voller Panik spürte ich, wie das Tor sich kurz öffnete. Ich fiel hindurch. Einen Augenblick später schloss es sich wieder.Ich glaube, ich war der zweite, der durchkam. Die Stille im Innern der Wartehalle war im Vergleich zu dem Lärm und Getümmel kaum zu fassen. Doch verheerender Weise waren dort drinnen ebenfalls keine organisierten Polizeikräfte oder Ordner anwesend. Ich wusste um die Notlage vor dem Tor und flehte die Polizei an, es zu öffnen. Obwohl tatsächlich aus dem Kontrollraum der Polizei Anweisung ergangen war, das Tor zu öffnen, reagierten die Polizeikräfte meinem Eindruck nach führungslos, eine Kommandokette schien es nicht zu geben.Bevor ich den Tunnel betrat, der zu unseren Stehplätzen hinter dem Tor führte, kaufte ich mir, noch völlig unter Schock, etwas zu trinken. Als sich dann hunderte von Fans näherten, stieg wieder die Angst in mir auf. Dies war der einzige Zugang zu den Blöcken direkt hinter dem Tor. „Geht da nicht hin, Kumpels, es wird voll“, sagte ich einer Gruppe anderer Fans. Wie viele weitere, die dachten, das Schlimmste überstanden zu haben, gingen sie kommentarlos weiter. Ich bin immer noch überzeugt, dass nur ein einziger Ordner oder Polizist, der die Fans zu den Seiteneingängen geführt hätte, an diesem Tag viele Leben hätte retten können. Seit diesem Tag frage ich mich, ob ich mehr hätte tun können und sollen."Hier werden Menschen sterben!"Immer mehr Fans strömten an mir vorbei und ich bekam Panik. Ich hastete vom Tunneleingang zu den Stufen seitwärts der Leppings Lane-Terrace. Ich hatte erwartet, zu viele Menschen auf zu engem Raum zu sehen zu bekommen, doch der Anblick, der sich mir dann tatsächlich bot, löste in mir das blanke Entsetzen aus. Ich rannte zu den Toren der Südtribüne und schrie die Polizei und die Vereinsleute an: „Hier werden Menschen sterben!“, erntete aber nur stumme Blicke.Die schrecklichen Bilder von sterbenden Fans, die über die Absperrungszäune gehievt und auf das Spielfeld gelegt wurden, sind heute hinlänglich bekannt, auf der Rückseite dieser überfüllten Blöcke, abseits der Kameras, wurde ich hingegen Zeuge noch ganz anderer Schrecken. Hinter der Westtribüne wurden die Körper abgelegt, die Toten neben die Verletzten. Ich selbst war völlig unfähig, Hilfe zu leisten oder das Ausmaß der Verletzungen zu bestimmen. Einige der Fans versuchten Bewusstlose zu reanimieren, viele andere flehten die Polizei um Krankentransporte an und wussten noch nicht einmal, dass draußen 44 Krankenwagen auf Anordnung der South Yorkshire Police geparkt waren.Ich sah wie Fans ruhig und besonnen mit den unglückseligen Beamten diskutierten, während ihre Freunde mit dem Tode rangen. Unglaublicherweise verwehrten einige Polizisten den Zugang nicht nur zu den Leichen, sondern auch zu den Verletzten. Sie stießen die Leute weg und machten sie für die grotesken Szenen verantwortlich. Mehrere junge Männer, die nur wenig älter waren als ich selbst, riefen zur Ruhe auf, weil sie wussten, dass der Polizei jede Gelegenheit recht sein würde, die Fans zu beschuldigen. Ihre Selbstbeherrschung war bemerkenswert – ihre Freunde lagen tot oder verwundet nur wenige Meter entfernt – sie durften nicht zu ihnen und wurden stattdessen physisch und verbal provoziert.„Viele dieser Fans haben ihr Leben bis heute gelebt, ohne sich klar darüber zu werden, dass dies wohl die traumatischste Erfahrung ihres Lebens gewesen sein dürfte“, sagt Coleman.Als sich endlich jemand um die Opfer kümmerte, machte ich mich auf, um das Gelände zu verlassen. Autoradios plärrten die stetig wachsenden Todeszahlen hinaus. Ich stand unter Schock und befand mich plötzlich in irgendeinem fremden Haus, um nach Hause zu telefonieren, brachte aber kein Wort heraus. Der Mensch, der mich bei sich telefonieren ließ, bestätigte meiner Familie, dass ich am Leben war. So endete Hillsborough für mich. Ich war stumm, unter Schock und wusste nicht, wo ich war.Tränenlos schockiertMein Vater kam erst Stunden später. Auch er wurde nicht zu den Toten und Verletzten gelassen. Ein ranghoher Polizist beschied ihm ohne jegliche Ironie, wenn er das Spielfeld betrete, könne er keine Verantwortung für ihn übernehmen. Unter den ausgestreckten Körpern und Helfern trug einer ähnliche Kleider wie ich, mein Vater drehte ihn um. Nachdem er auf dem Spielfeld und im ganzen Stadion nach mir gesucht hatte, kehrte er zu seinem Wagen zurück, wo er mich zusammmengekauert dasitzend fand. Keiner redete. Schweigend fuhren wir nach Merseyside zurück. Tränen flossen nicht.Manch einer mag denken, dass zwanzig Jahre später alles über Hillsborough gesagt ist. Ich hingegen glaube, dass viele noch kaum begonnen haben darüber zu sprechen. Es gibt tausende Überlebende und Zeugen, die nicht darüber hinweg kommen, weil ihr Erleben noch nicht öffentlich gemacht worden ist. Das Fehlen von Gerechtigkeit, eines jeglichen Eingeständnisses von Mitschuld an den schrecklichen Fehleinschätzungen jenes Tages stellt die entscheidende Hürde dar, aber auch langfristige Schuld- und Schamgefühle spielen eine Rolle. Für gewöhnlich fragt man mich durch die Blume nach dem, was ich gesehen habe. „Warst Du in Sheffield?“, oder „Warst Du bei dem Spiel?“, werde ich dann gefragt.Von wegen "You never walk alone"Für mich wie für viele andere kamen die Probleme in den folgenden Jahren. Nach mehreren Monaten im Zustand des Schocks, in denen ich dankenswerterweise sehr gut seelsorgerisch betreut wurde, und nach mehreren Jahren der Verleugnung, wurden die Auswirkungen schließlich spürbar. Ausgelöst von wer weiß was, begannen die Tränen zu fließen. Auf der Straße, in einem Restaurant, zu Hause, im Zug – acht bis zehn Jahre später konnte keine Verdrängung und keine Leugnung meine Gefühle mehr zurückhalten.„Gefühle der Erleichterung, das Blutbad von Hillsborough überlebt zu haben, wichen sehr schnell Gefühlen der Schuld “, berichtet Coleman. „In vielen Fällen führten diese Schuldgefühle dazu, dass die Leute ihre Gefühle unterdrückten – fast so, als sprächen sie sich das Recht ab, sich als Opfer zu betrachten.“Mehrere Selbstmorde wurden mit Hillsborough in Verbindung gebracht, auch der eines Nottingham-Forest-Fans, der die Ereignisse von der anderen Seite des Stadions mitangesehen hatte. Was wir jetzt brauchen, ist eine saubere und umfassende Untersuchung des Fußballverbandes über die Langzeitfolgen bei Überlebenden, Zeugen und deren Familien. Würde der Verband die Untersuchung der Langzeitfolgen finanziell unterstützen, wäre das wäre ein angemessener Tribut an die Überlebenden. Es wird Zeit, dass das Versprechen der Worte der Liverpoolhymne eingelöst wird, in der es heißt: „You’ll never walk alone.“
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