Trotz der beachtlichen, weitreichenden Veränderungen, die es in den vergangenen Jahren gab, ziehen sich Wolken der Angst über diesem Land zusammen. Dies hat wenig mit der Wirtschaft und nur zum Teil mit dem Bürgerkrieg in Syrien zu tun. Die Besorgnis der Menschen resultiert vielmehr aus dem immer deutlicher hervortretenden Einfluss, den die Religion auf die Politik der Regierung ausübt. Sie greift in den Lebenswandel der Bürger ein und verweigert sich den Forderungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Gerade gilt alle Aufmerksamkeit der Frage nach dem Einfluss, den die Kurden künftig auf die Makro-Ökonomie des Landes haben werden.
Die türkische Wirtschaft wächst beständig, und in den Augen seiner Verbündeten bleibt das Land ein w
Land ein wichtiger Garant für die regionale Stabilität. Innenpolitisch wird indes eine Art Hängepartie ausgetragen. Die seit zwölf Jahren im Amt befindliche Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) sperrt sich vehement dagegen, das ökonomische Wachstum mit politischen Reformen zu flankieren. Sie sorgt stattdessen mit Ablenkungsmanövern für Verwirrung.Sicherlich hat das auch viel mit dem Mangel an alternativen Visionen auf Seiten der Opposition zu tun. Eine mächtige Ein-Parteien-Regierung sollte freilich aus sich heraus in der Lage sein, entschlossene und weitreichende Schritte zu unternehmen.Gebot der ReligionAls Mitte Mai die Anschläge in der Stadt Reyhanli an der Grenze zu Syrien Befürchtungen aufkommen ließen, es könnte zu einem innertürkischen Konflikt zwischen Sunniten und Aleviten kommen, versuchte Premier Erdogan, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er wollte die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema lenken und die konservativen sunnitischen Wähler der AKP davon überzeugen, mit ihm den geeigneten politischen und religiösen Führer zu haben. So wurde durch seine Partei ein Gesetz zur Beschränkung des Alkoholverkaufs verabschiedet. Begründung: Dies sei „Gebot der Religion“, darüber lasse sich nicht diskutieren.Abgesehen von Statistiken über Alkohol im Straßenverkehr konnten die Argumente zur Rechtfertigung des Dekrets – Gesundheit, öffentliche Ordnung, Alkoholismus – niemanden so recht überzeugen. Die urbane Bevölkerung, einschließlich der Sunniten, fühlt sich vielmehr bevormundet. Wer sich in ihre Art zu leben nicht nur einmischt, sondern derart eingreift, löst Unmut aus.Des weiteren wurde vor knapp zwei Wochen mit einer pompösen Zeremonie der Baubeginn einer dritten großen Brücke über den Bosporus in Istanbul gefeiert, ohne dass mögliche Folgen für die Umwelt zuvor ausreichend debattiert worden wären. Die geplante Brücke wurde auf den Namen Sultan Selims des Grausamen getauft, der so brutal gegen Aleviten und Schiiten vorging wie kein anderer in der Geschichte des Osmanischen Reiches. Der Eroberer Ägyptens und mächtige Sultan ist berüchtigt für Massaker an Zehntausenden von anatolischen Aleviten vor und nach seinem Krieg gegen Persien.Man hätte die bewusste Brücke gut und gern nach Rumi, dem großen Sufi-Denker, dessen Lehre der universalen Toleranz von Anatolien aus in der gesamten Region verbreitet wurde, oder nach irgendeinem anderen muslimischen Humanisten benennen können. Es lässt sich unschwer erkennen wie sehr die Aleviten durch die Entscheidung für Selim provoziert wurden. Immerhin stellen sie ein Zehntel der Bevölkerung und warten nach wie vor auf eine offizielle Anerkennung ihrer religiösen Identität und Rechte. Mit diesem Namen dürfte die Bosporus-Brücke schwerlich zum Symbol der Verbindung von Kontinenten und Kulturen taugen, sondern vielmehr eine schmerzhafte kollektive Erinnerung wachhalten.Aber nicht allein die Aleviten sind beunruhigt: Mit einer Reihe gigantischer Bauprojekte in Istanbul hat die Regierung Menschen verschiedenster politischer Überzeugungen und aller Altersstufen gegen sich aufgebracht. Allein im Mai haben die Behörden Demonstrationen zum 1. Mai gewaltsam unterdrückt und in großer Eile ein Kult-Kino von historischem Wert abgerissen, um es durch ein Einkaufszentrum zu ersetzen. Zugleich wurde umstrittene Bauprojekte auf dem nahegelegenen Taksim-Platz angeschoben, ohne dass diese zuvor ausreichend öffentlich diskutiert worden wären. Zum Überlaufen brachte das Fass letztlich das Fällen von Bäumen in einem an den Platz angrenzenden Park. Konsens in weite FerneDie AKP-Regierung und ihre Behörden benehmen sich, als könnten sie in dem Jahrhunderte alten Istanbul tun und lassen, was sie wollen, ohne sich um Folgen für das Stadtgefüge und die Umwelt scheren zu müssen. Sollte allerdings die AKP nicht aufhören, passiven Widerstand gewaltsam zu unterdrücken, wie im Gezi Park geschehen, könnte die Opposition schnell zu einer realen politischen Alternative werden.Der Widerspruch ist offensichtlich: Ständig spricht die AKP-Regierung von Reformen und wiederholt ihre Versprechen, die Türkei vom Erbe des Militärregimes zu befreien und eine neue Verfassung zu verankern. Konkrete Ergebnisse jedoch blieb sie bisher schuldig. Jetzt hat es die AKP in wenigen Wochen geschafft, zwei wichtige gesellschaftliche Gruppen gegen sich aufzubringen: die Aleviten und die Stadtbevölkerung, einschließlich der gemäßigt Religiösen. Wenn diese Polarisierung weitergeht, rückt der für eine neue Magna Charta unerlässliche gesellschaftliche Konsens in weite Ferne.Die Kurden bleiben die wichtigste oppositionelle Kraft im Land. Auch wenn der Abzug der bewaffneten PKK-Kämpfer reibungslos vonstatten geht, haben diese 18 Prozent der Bevölkerung das Gefühl, trotz der Geheimverhandlungen mit der PKK weiter in der Luft zu hängen. Sie werden immer ungeduldiger, weil sie vergebens auf irgendeine Art von Reform warten. Ihre Verlangen nach Rechten und Freiheiten verschmilzt immer mehr mit den Forderungen der Aleviten und verschiedener urbaner Gemeinschaften.Ein Aspekt der Unruhe in der Gesellschaft und der politischen Ungewissheit hat mit Fragen zu tun, die sich aus dem Selbstverständnis der AKP ergeben. Die Partei sieht sich als starke „gesellschaftliche Koalition“, deren Profil über eine islamische Identität hinausgeht. Sie selbst bezeichnet dies seit 2008 als „islamische Demokratie“. Doch gleichzeitig gibt es Zweifel an ihrem demokratischen Wesen. Der Reformprozess ist ins Stocken geraten und über den Friedensprozess mit den Kurden herrscht Ungewissheit. Und nun hat die autoritäre und neoliberale Haltung, die bei Großprojekten an den Tag gelegt wurde, auch denjenigen zu denken gegeben, die wissen, was „konservativ“ eigentlich bedeutet.