Eine Wiederbegegnung mit Hermann Hesses Glasperlenspiel

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Wie wohl viele las ich Hesses "Glasperlenspiel" als Jugendlicher. Was mich nun nach vielen Jahren dazu brachte es wieder zu lesen war nicht nur eine gewisse Neugier, ob das, was damals großen Eindruck auf mich machte, mich auch heute noch fesseln könne, sondern ein durchaus spezifisches Detail.

Was mich damals nämlich verstörte, ja verärgerte war der plötzliche Tod von Josef Knecht, der den Roman geradezu gewaltsam beendet. Viele Jahre Leseerfahrung haben mich inzwischen gelehrt, dass gerade in jenen Details einer Geschichte, die Befremden auslösen, die tiefsten und persönlichsten Wahrheiten eines Autors verborgen liegen. Und in der Tat hat sich für mich bei dieser Wiederbegegnung gezeigt, dass dieser plötzliche Tod keine erzählerische Verlegenheitslösung ist sondern eine tiefere innere Konsequenz hat.

Dass Hesse vor allem Jugendliche stark anspricht ist kein Zufall. Der absolute Anspruch, der Hesses Werk kennzeichnet, der Wunsch allem auf den Grund gehen und einen Sinn geben zu wollen, die Suche nach einem idealen Leben ohne faule Kompromisse, ist typisch für den jugendlichen Blick auf die Welt, der noch nichts von Kompromissen und Pragmatismus wissen will. So schön und oft auch ergreifend dieser Idealismus ist, als älterer weiß man, dass dieser Blick auch naiv ist, die längerfristigen Konsequenzen, die quälenden Ernüchterungen des Alltags, den aufreibenden Konflikt verschiedener Interessen nicht überblickt.

Eine gewisse mönchische Naivität, einen puristischen Idealismus legt Hesse im Grunde nie ab. Das welthaltige, Sex, Gewalt kommt bei Hesse zwar vor, doch immer auf eine abstrakte, distanzierte Weise. Diese "Blutleere" macht ihn für viele erwachsene Leser uninteressant. Doch dieser Reinheits- und Klarheits-Drang ist auch die Vorraussetzung, dass jemand zu einem Weltweisen werden kann wie er. Ähnlich wie bei Kant, der ein ähnlicher Charaktertypus war, ermöglicht erst die Vermeidung alles "menschlichen Schlamms" den klaren und unvoreingenommenen Blick auf die Dinge.

Deswegen steht bei Hesse auch das geistige, inhaltliche absolut im Vordergrund, der anderer Aspekt der Kunst, das Spiel und die Artistik spielt, anders als etwa bei Thomas Mann, kaum eine Rolle. Das stilistische Ideal von Hesse ist Klarheit und Reinheit. Das macht ihn für den professionellen Literaturbetrieb, dessen Augenmerk mehr auf dem artistischen Aspekt liegt, so unergiebig. Er bietet ästhetisch zu wenig Widerstand. In einem modernen Sinn sind Hesses Bücher vielleicht nicht mal Literatur. Der Kunstwille, den man in einigen frühen Romanen zumindest manchmal noch beobachten kann, ist im "Glasperlenspiel" fast vollends geschwunden. Anders als bei Thomas Manns "Doktor Faustus" und "Erwähltem" ist der fiktive Erzähler keine zusätzliche Instanz, die das Spiel mit Parodie und ironischer Brechung ermöglicht. Bei Hesse dient der Erzähler im Gegenteil als Lizenz sich eines literarischen Anspruchs ganz zu entkleiden und dem ganzen den Anschein des rein Dokumentarischen, Legendenhaften zu geben. Gleichzeitig liegt in diesem nicht-Literatur-sein-wollen seinerseits eine ästhetisch Konsequenz, ist ja der kulturkritische Aspekt das inhaltliche Zentrum des Buches.

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Bei der erneuten Lektüre des "Glasperlenspiels" war ich, wenn möglich, sogar noch stärker gefesselt als beim ersten Mal. Was mir bei der Wiederbegegnung jedoch klar wurde, ist, dass ich das Buch beim ersten Lesen vollkommen missverstanden habe. Natürlich habe ich Josef Knecht damals als Helden und Vorbild betrachtet, zu ihm mit derselben Liebe und Bewunderung aufgeblickt, wie so viele innerhalb des Buches. Was ich jedoch nicht begriff, ist, dass diese Geschichte die Geschichte eines Scheiterns ist. Damals war ich wohl einfach zu unerfahren um die vielen, keineswegs verborgenen sondern offenen Hinweise darauf richtig zu deuten.

Kastilien, der Orden in dem das Glasperlenspiel betrieben wird, wird ja eigentlich von Beginn an mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Es ist ja keineswegs das humanistische Utopia, zu dem ihn manche Leser gerne idealisieren wollen. Ja es ist nicht einmal ein eskapistisch neutraler Ort, an dem sich eine Elite einem Privatvergnügen hingibt. Es ist viel schlimmer, und dies ist die bittere Erkenntnis, die in Josef Knecht allmählich heranreift. Das, was Kastilien symbolisiert, steht in einem unheilvollen dialektischen Verhältnis mit dem drohenden Umschlag in die Barbarei, der heraufzieht. In dem irrigen Glauben der Weiterentwicklung eines abstrakten geistigen Spiels, dem Glasperlenspiel, und damit in irgendeiner numinosen Weise der Menschheit zu dienen, arbeitet Knecht an deren Untergang mit. Im Glasperlenspiel steckt eine Anmaßung, die Welt auf rationale Begriffe bringen zu können, ja gar mit ihr spielen zu können, die gewisse kosmische oder göttliche Gesetze verletzt.

Die drei Lebensläufe, die gewissermaßen der Schlüssel für den eigentlichen Roman sind geben dazu unmissverständliche Hinweise. Die Geschichte vom Regenmacher, die in heidnischer Vorzeit spielt, exemplifiziert diese Anmaßung ganz unzweideutig. Die liegt schon in der Bezeichnung "Regenmacher", mit der Knechts alter ego sich schmückt. Denn natürlich kann dieser Ureinwohner das Wetter auf Grund langer Beobachtung und Erfahrung bis zu einem gewissen Grade "lesen" und vorhersagen, doch "machen" kann er es natürlich nicht. Am Ende muss er sein Leben opfern, um die durch schlechte Witterung aufgebrachte Menge zu beruhigen. Auch hier erscheint es dem Leser zunächst, als ob sich Knecht unschuldig opfert. Ihm ist jedoch bewusst, dass er sich durch die ästhetische Illusion einer Rationalisierung der Welt an der Gemeinschaft versündigt hat.

Auch der christliche Lebenslauf bezeichnet, ganz im Sinne der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte, den Drang nach Erkenntnis als die Ursünde und die "Wissenden" als die wahren Sünder. Und auch hier das Urmotiv des Selbstopfers von Jesus Christus als Akt der Tilgung der Ursünde.

Schließlich der indische Lebenslauf, der in gewisser Weise die Siddartha Geschichte auf bezeichnende Weise variiert. War Siddartha noch eine reine Selbstverwirklichungsgeschichte und die Welt, das heißt Macht, Reichtum, Erotik das "andere", durch das Siddartha hindurchging, um es dann hinter sich lassen zu können, steht hier Knechts alter ego in einem schuldhaften Verhältnis zu Welt. Dabei besteht die Schuld gar nicht so sehr im Mord an seinem Halbbruder, sondern in einem rationalistischen Verhältnis zur Welt. In seinem Traum sieht er als Herrscher seines Landes den Krieg heranziehen, doch die klare Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Mechanismus lähmt ihn und reißt alle in den Untergang.

Wenn Josef Knecht also Kastilien den Rücken kehrt, ist er bereit zu einem Opfer. Doch was hätte er, der sein Leben lang Kastilier war, dem Jungen Tito beibringen können? Der plötzliche Tod im eiskalten Gebirgssee war weder geplant noch gewollt, doch Josef Knecht ließ es wohl einfach geschehen. Müdigkeit, Resignation, ein Gefühl durch die Selbstopferung Schuld tilgen zu können. All das genügte um den Dingen ihren Lauf zu lassen.

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Als Thomas Mann während dem 2. Weltkrieg das "Glasperlenspiel" zu lesen bekam, war er frappiert von den Parallelen zu seinem eigenen Romanprojekt Dr. Faustus. Tatsächlich ist auch die Geschichte Adrian Leverkühns die Geschichte einer Teufelsverführung und eines Scheiterns. Auch Leverkühn versteigt sich in eine Welt geistvollen Spiels. Und auch Thomas Mann sah diesen dialektischen Zusammenhang zwischen der geistigen Verstiegenheit der kulturellen Elite und dem Umschlag in den Barbarismus des Nationalsozialismus.

Worin jedoch ein Unterschied besteht, ist, dass Leverkühn von einem faustischen Ehrgeiz getrieben ist während Josef Knecht wie der Name schon sagt sich eigentlich als Diener sieht und in allem, was er tut, das Bemühen liegt es allen Recht zu machen, sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.

Damit hängt wohl auch zusammen, dass ich bei der Wiederbegegnung mit dem "Glasperlenspiel" seltsam bewegt und berührt war wie ich es beim "Doktor Faustus", den ich schon mehrfach und immer mit tiefen Interesse gelesen habe, nie gewesen bin. Denn es steckt ein tief tragisch-resignativer Zug hinter diesem Buch: ein Mensch mit größter Begabung und den besten Absichten und muss doch grausam Scheitern. Das heißt auf dieser Welt ist für so jemanden Erlösung nicht zu finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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