Weltwirtschaft Wer David von Reybroucks Geschichte des Kongo gelesen hat, wird nie mehr glauben, dass eine Holzgiraffe ein typisches Souvenir Afrikas ist
Die ungleiche Verteilung von Informationen über die Welt könnte in der Einheit „Nachrichtenzeilen pro gewaltsam getötetem Menschen“ gemessen werden. Aus deutscher Perspektive wären Kleinstädte und Vororte wie Emden und Krailling unschlagbare Spitzenreiter; Toulouse und Littleton kämen auf passable Werte; sogar Kundus und Nablus liegen im oberen Mittelfeld. Über die Morde in den Drogenkriegen in Mexiko könnte man sich auch noch halbwegs schnell halbwegs detailliert informieren. Sehr weit abgeschlagen auf dieser Skala läge der Kongo. Über dieses Land findet der Leser von angesehenen überregionalen Tageszeitungen in Deutschland, im unteren Bereich der Seite acht, typischerweise summarische Hinweise auf mehrere Millionen Tote i
e in den vergangenen fünfzehn Jahren. Man sollte denken, dass man, bis sich so viele Tote angesammelt haben, viele Tausend Artikel darüber hätte lesen können müssen. Es gibt davon aber auf Deutsch fast nur die Beiträge von Dominic Johnson für die taz und sein eigenes Blog.Die Rechnung mit der Einheit „Nachrichtenzeilen pro gewaltsam getötetem Menschen“ ist natürlich zynisch. Die Skala würde sich aber auch eignen, um den Punkt auszumachen, an dem es fast unmöglich wird, noch anders als zynisch zu reagieren. Einmal ist es gelungen, diesen Zynismus als Literatur zu gestalten: in Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness (1899). Dem Autor hat man vorgeworfen, er entwerfe ein undifferenziertes Bild der Afrikaner. Tatsächlich gibt es da zu dem charismatischen Ex-Kolonisator Kurtz, der sich mit einer Gruppe buntgescheckter Anhänger in den tiefsten Urwald verzogen hat, kein Gegenbild eines edlen Wilden mehr, geschweige denn das eines vernünftigen, humanen Kolonisators. „The horror! the horror!“: Kurtz’ Ausruf beschreibt denjenigen Horror, bei dem man nicht einmal mehr die Täter und die Opfer des Horrors auseinanderhalten kann, geschweige denn anzugeben vermag, was dagegen zu unternehmen wäre – sei es während der „Kongo-Greuel“, in denen Afrikaner auf internationalen Befehl Afrikaner umbrachten; sei es während des, inzwischen nur offiziell beendeten, „Großen Afrikanischen Krieges“, in dem Afrikaner unter internationaler Beobachtung Afrikaner umbrachten und umbringen.Der nächste RohstoffEs liegt nahe, das Herz der Finsternis in „Schwarzes Loch der Globalisierung“ umzubenennen. Nach der Lektüre von David van Reybroucks eben auf Deutsch erschienenem Buch Kongo. Eine Geschichte, das auf einem gründlichen Studium der Forschung, vielen Gesprächen mit Kongolesen und Kongo-Fachleuten sowie teilnehmender Beobachtung beruht, wird man dies nicht mehr tun. Van Reybrouck gelingt es, den Horror nicht zu verleugnen und ihm dennoch nicht zynisch zu begegnen, sondern detailliert zu beschreiben und unaufdringlich, aber treffsicher zu analysieren. Danach muss man – ohne dass der Autor selbst es auf diese Formel brächte – den Kongo eher das Herz der Globalisierung nennen.Gewiss: Diese provokante These setzt voraus, dass man die Einhaltung einiger Standards vorläufig nicht zur Definition von „Globalisierung“ rechne: das Recht darauf, nicht vergewaltigt, verstümmelt, getötet oder vertrieben zu werden, das Recht auf Wasser, einfachstes Essen oder medizinische Grundversorgung. Vielleicht gerade deshalb jedoch bietet das Land „eine Vorankündigung dessen, was einem überbevölkerten Planeten noch bevorsteht. Der Kongo ist nicht in der Geschichte zurückgeblieben – er ist der Geschichte voraus.“ Das ist etwas pathetisch formuliert; jedenfalls aber lässt sich anhand dieses Landes exemplarisch Globalgeschichte schreiben, in ihren ökonomischen, politischen, kulturellen und juristischen Aspekten.Aus der Sicht der Weltwirtschaft ist der Kongo ein Paradies, das stets über genau dasjenige verfügte, was gebraucht wurde. Dies begann im 16. Jahrhundert mit den Sklaven, welche zunächst vor allem die Portugiesen, später auch Briten, Franzosen und Niederländer nach Amerika exportierten. Schätzungsweise vier Millionen Menschen, ein Drittel des Gesamtaufkommens im transatlantischen Handel, wurden im Gebiet um die Mündung des Kongo aufgekauft. Als Leopold II. ab 1885 den sogenannten Kongo-Freistaat befehligte, konnte er es sich bald leisten, den letzten, jetzt wieder arabischen, Sklavenhändlern das Handwerk zu legen, weil schon der nächste begehrte Rohstoff bereitstand: das Kautschuk, aus dem die Gummireifen von Fahrrädern und Autos auf aller Welt gemacht waren. Außer Diamanten, Kupfer und Gold bietet der kongolesische Boden auch diejenigen Metalle, deren Nützlichkeit sich erst im 20. Jahrhundert herausstellte. Aus dem Kongo stammte das Uran in der Atombombe, welche die US-Amerikaner auf Hiroshima abwarfen. In den letzten Jahren wurde der Raubbau der Legierung Coltan forciert, in der das Tantal steckt, aus dem die Kondensatoren für kleine elektronische Geräte gemacht sind. Um die Jahrtausendwende haben die mit vor-industriellen Mitteln schürfenden Kleinstunternehmer für einen großen Anteil des Weltmarkts gesorgt – inzwischen dürfte der Anteil allerdings wieder niedriger liegen.Nach der UnabhängigkeitDie globalen politischen, gegebenenfalls militärisch durchgesetzten Interessen entsprechen weitgehend den ökonomischen Angeboten. Bis heute hat – von dem jahrzehntelang sein Land ausplündernden Präsidenten Mobutu und ein paar wenigen anderen einmal abgesehen – kaum ein Kongolese von dem Reichtum Kongos profitiert. Nach der Unabhängigkeit wurde das Land zu einem der wichtigsten Schauplätze des „Kalten“ Kriegs, also der Stellvertreterkriege im Kampf der Großmächte. Zu Beginn der sechziger Jahre war daher die Aufmerksamkeit für Afrika ausnahmsweise so groß, dass Peter Scholl-Latour nicht nur gelegentlich in Talkshows, sondern allabendlich in der Tagesschau zu sehen war.Damals kannten sogar durchschnittlich informierte Deutsche den Namen eines Politikers, der wenige Monate lang durch hyperventilierte Reden und dilletantische Verordnungen Aufsehen erregte, bis er, als Ermordeter, zum großen Märtyrer der afrikanischen Befreiungsbewegungen stilisiert wurde: Patrice Lumumba. Als sich nach 1989 die Welt nicht mehr so leicht in binäre Oppositionen ordnen ließ, kamen andere Akteure hinzu: das kleine, aber starke Nachbarland Ruanda sowie jüngst, vor allem, ein China, das damit längst keine ideologische Interessen mehr verbindet.Die kulturellen Ausprägungen der Globalisierung zeigt van Reybrouck besonders anschaulich an diesem jüngsten Stadium. Nach der Lektüre dieses Buches wird kein Afrika-Reisender mehr eine Holzgiraffe als typisches Souvenir nach Hause bringen, sondern das industriell gefertigte Ölgemälde einer Schweizer Landschaft, aus einem Supermarkt, den Chinesen in einem kleinen Dorf im westlichen Kongo betreiben. Konsequenterweise spielt das letzte, amüsanteste Kapitel von van Reybroucks Buch nicht im Kongo, sondern in Guangzhou (Kanton). Dort nämlich hat sich inzwischen eine kleine afrikanische Diaspora gebildet; noch mehr Kongolesen fliegen dorthin, um als Kleinunternehmer einzukaufen und ihre Waren im Kongo wieder zu verkaufen. Chinesen, die Lingala sprechen, verkaufen optimierte Kopien westlicher Industrieprodukte an Kongolesen, die mit chinesischen Schriftzeichen quittieren. Das Tantal aus den kongolesischen Minen, das inzwischen wohl nur noch in den chinesischen Blue-Berrys und Seimens steckt, kommt damit ins Heimatland zurück.Der Anteil von RuandaSo fantasievoll jedoch solche Varianten von Kleinkapitalismus anmuten mögen – sie werden nicht reichen, um das Notdürftigste für alle Kongolesen herzustellen: das Recht darauf, nicht vergewaltigt, verstümmelt, getötet oder vertrieben zu werden, das Recht auf Wasser, einfachstes Essen oder medizinische Grundversorgung. Den globalen Institutionen ist es bis heute nicht gelungen, dies sicherzustellen. Statt darüber allerdings immer nur zu lamentieren, betont van Reybrouck, dass diese Institutionen im Kongo relativ viel versuchen. Schon die von Lumumba erbetene UN-Intervention war die seinerzeit größte, die noch nicht abgeschlossene MONUC ist die derzeit größte. In Goma treten sich die Hilfsorganisationen gegenseitig auf die Füße. Und was nicht verhindert werden konnte, soll immerhin bestraft werden: Der erste überhaupt vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag rechtskräftig verurteilte Täter (Thomas Lubanga) ist wegen Verbrechen im Kongo verurteilt worden, ein weiterer (Jean-Pierre Bemba) steht vor Gericht, einen dritten (Bosco Ntaganda) liefert Staatspräsident Joseph Kabila, unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, vielleicht demnächst aus.In der Aufarbeitung der jüngeren Gewalttaten im Kongo wird zunehmend der Anteil von Ruanda offengelegt, das nach dem Genozid von 1994 die in den Kongo geflüchteten Täter verfolgte und seither im Osten des Staates großen Einfluss besitzt. Weil die Weltöffentlichkeit gegen die ruandischen Verletzungen der kongolesischen Souveränität nur zögerlich eingeschritten ist, schreibt van Reybrouck, habe „Kagames Tutsi-Regierung“ von „ihrer sorgsam kultivierten Opferrolle“ profitiert. Mir wird bei solchen Sätzen unwohl, weil ich auf einer strikten Unterscheidung zwischen organisierten Völkermorden und anderen Formen der tödlichen Gewalt beharre. Vielleicht zu Unrecht: Darf ein Staat, der die Opfer und Überlebenden eines Völkermords vertritt, wirklich Präventivangriffe führen, die er mit geostrategischen und wirtschaftlichen Vorteilen verbindet? Auch diese Frage wäre im globalen Bezugsrahmen weiter zu diskutieren.
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