Darbende Haushalte, hohe Inflation und grassierender Kapitalmangel können einer Wirtschaft schon sklerotische Zustände bescheren und einen Teil der Bevölkerung an den Rand der Verelendung führen. Für Serbien trifft das auf jeden Fall zu. Komplettiert werden die Krisensymptome durch rapide sinkende Geldüberweisungen serbischer Arbeitsmigranten, die ihre Familien seit Jahrzehnten aus Deutschland, Österreich oder auch Australien unterstützen, nun in Massen entlassen werden und zurückkehren.
Immerhin vier Milliarden kamen in guten Zeiten über den Gehaltstransfer der Arbeitsmigranten jährlich ins Land, wie der Ökonom Dusan Prorokovic errechnet hat. Dieser Betrag ist inzwischen um ein gutes Drittel geschrumpft, ein Aderlass sondergleiche
dergleichen. „Meine Mutter überlebt mit umgerechnet 150 Euro monatlich“, erzählt ein Gast im mondänen Belgrader Café Orient Express. Die alte Frau wohne in einem kleinen Dorf bei Kragujevac und ernähre sich von dem, was sie selbst angebaut habe. Ihr Sohn unterstützt sie gegebenenfalls bei unerwartet anfallenden Ausgaben. Wer alt ist und niemanden hat, der ihn im Erstfall unterstützen kann, ist schlecht dran im neuen, politisch nach Westen ausgerichteten Serbien.Den Appetit verdorbenDie makroökonomischen Daten des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) ergänzen die Negativ-Analyse, zeigen sie doch, dass in Serbien bereits 2008 die ausländischen Investitionen ebenso wie der Außenhandel stark zurückgegangen sind. Gemessen an der Leistungsbilanz steht das Land knapp vor Bulgarien und Montenegro mit einem Minus von 17,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an drittletzter Stelle in Europa. Im extremen Rückgang dieses Wertes zeigen sich Kapitalflucht und Gewinntransfers in die Zentren der Eurozone auf eindrückliche Weise.Im März hat sich die Inflationsrate auf zehn Prozent hoch geschaukelt, was bedeutet: Jeder in Dinar verdiente Lohn wird sogleich in Euro eingetauscht. Bekam, wer ein Durchschnittsgehalt von 20.000 Dinar verdient, dafür im Dezember noch 250 Euro, ist vier Monate später der gleiche Betrag nur mehr 200 Euro wert. Verspätete Lohnauszahlungen gehören längst zum Standard nicht nur in kleinen Betrieben, auch die Journalistenkollegen der Nachrichtenagentur Tanjug müssen oft einen Monat lang auf ihr Gehalt warten. Während dieser Zeit hat die Inflation bereits einen Teil des Geldes aufgefressen. Wer sich beschwert, kann schnell auf der Straße landen.Da fällt es schon ins Gewicht, dass die Gewerkschaften des Landes schwach und gespalten sind. Die Autonome Gewerkschaftsföderation gilt als Nachfolgeorganisation der kommunistischen Arbeitervertretung, während die Konföderaton Nezavisnost sich als unabhängige, liberale Kraft versteht, deren Selbstbewusstsein ihrem Kampf gegen Milosevic entspringt. Erstere gibt ihre Mitgliederzahl mit 500.000 an und vertritt die klassische Industriearbeiterschaft, die „Unabhängigen“ zählen 200.000 zahlende Anhänger und versuchen, Angestellte aus dem Gesundheitswesen, aus dem Bildungs- und Mediensektor zu vertreten. „50 Prozent der Beschäftigten in Serbien sind derzeit gewerkschaftlich organisiert“, meint Gewerkschafter Saud Seceragovic, aber erschwert werde der Zusammenhalt durch ein großes Lohngefälle. Arbeiter aus der Tabakindustrie würden etwa mit umgerechnet 500 Euro monatlich nach Hause gehen, und im Raum Belgrad oder der Vojvodina lägen die Löhne deutlich höher als im Süden des Landes.Hinzu kommt, dass viele Fabriken nach dem NATO-Bombardement vom Frühjahr 1999 nicht wieder aufgebaut wurden und – wie die Kupfermine in Bor – seit Jahren auf einen Investor warten. Beim industriellen Herzstück Zastava in Kragujevac, dessen Gebäude bei den Luftangriffen vor zehn Jahren in Schutt und Asche fielen, sollte die Rettung aus Turin kommen. Doch hat die europaweite Autokrise den Fiat-Managern längst den Appetit auf den serbischen PKW-Produzenten verdorben – seit einem halben Jahr versprochene Investitionen bleiben aus.Aufbruchstimmung in Zrenjanin70 Kilometer nördlich von Belgrad, in der Industriestadt Zrenjanin, haben sich die Arbeiter des pharmazeutischen Betriebes Jugoremedija selbst geholfen. Nachdem der neue serbische Eigentümer die Anteile der Arbeiter an der Fabrik ignoriert und versprochene Investitionen nicht getätigt hat, sind die 500 Beschäftigen 2007 auf die Straße gegangen, haben die Anlage besetzt und eine Solidaritätsbewegung ausgelöst, die nach einem Kampfjahr auch juristisch zum Erfolg geführt hat. Jugoremedija ist das erste Unternehmen nach der Zerschlagung des Systems der Arbeiterselbstverwaltung, das wieder in den Händen der Beschäftigten ist. Beim Lokaltermin mit Ivan Zlatic, einem jungen Aktivisten aus der landesweit tätigen Solidaritätsgruppe Pokret za slobodu („Freiheitskämpfer“), trifft man in Zrenjanin auf eine Aufbruchstimmung, die anderswo in Serbien unbekannt ist. Voll Stolz führt einer der Arbeiter von Jugoremedija durch die ziemlich desolat wirkenden Hallen, die demnächst renoviert werden sollen. Bei ihm spürt man den Willen zum Neubeginn, der ansonsten in Serbien zehn Jahre nach den NATO-Bomben weitgehend fehlt.