Lateinamerika rüstet auf: Binnen eines Jahrzehnts haben sich die Militärausgaben mehr als verdoppelt. Die politischen Konflikte werden dadurch brisanter
In Lateinamerika macht die internationale Rüstungsindustrie derzeit gute Geschäfte. 36-Rafale-Kampfflugzeuge, 50 Hubschrauber, fünf U-Boote und Hilfe beim Bau des ersten eigenen Atom-U-Bootes – diesen Zehn-Milliarden-Euro-Deal brachte der Präsident der aufstrebenden Regionalmacht Brasiliens, Lula da Silva, zuletzt mit Frankreichs Staatschef Sarkozy unter Dach und Fach. Nur wenige Tag nach dem wohl teuersten Waffenkauf der brasilianischen Geschichte gab auch Venezuelas Hugo Chávez bekannt, dass sich seine Armee mit russischen Waffen verstärken wolle. Auf Pump erwirbt der Karibikstaat unter anderem 100 russische T-72 und T-90-Panzer. Nach seiner Rückkehr aus Moskau kündigte Chávez zudem die rasche Anschaffung russischer Anti-Schiffs-Raketen
en vom Typ Club an. Keine Überraschung, denn seit dem gescheiterten Waffendeal mit Spanien im Jahr 2005 – die Bush-Regierung hatte Venezuela damals wegen vermeintlicher Hilfe für die kolumbianischen FARC-Guerilla der „Achse des Bösen“ zugeordnet und Druck ausgeübt – kaufte man Suchoi-Bomber, Helikopter und Kalaschnikows im Wert von über 2,7 Milliarden Euro kurzerhand im Kreml ein. Endgültig vorbei Die jüngsten Beispiele belegen einen besorgniserregenden Trend: Die Länder des südlichen Amerika rüsten in nie da gewesenem Ausmaß auf. Allein die Zahlen sprechen Bände. Innerhalb eines Jahrzehnts haben sich die Militärausgaben nach Angaben des Instituts für Friedensforschung in Stockholm (SIPRI) mehr als verdoppelt. Zwischen 2003 und 2008, so errechnete seinerseits das britische Internationale Institut für Strategische Studien (IISS), wurden in ganz Lateinamerika und in der Karibik 91 Prozent mehr Gelder für Waffenkäufe aufgewendet. Was die Frage aufwirft: Droht dem Kontinent ein Wettrüsten?SIPRI-Expertin Carina Solmira ist sich ganz sicher: „Es gibt keinen Rüstungswettlauf.“ Viele Einkäufe seien einzig der Modernisierung veralteter Waffen geschuldet. Auf diesem Weg würden „überholte Ausrüstungen durch neue ersetzt.“ Der noch bis vor kurzem fast stetige Preisanstieg für Rohstoffe wie Öl, Gas und Mineralien habe Exportnationen wie Venezuela, Brasilien, Chile und Kolumbien schlicht „mehr Geld zum Ausgeben“ verschafft. Zudem hatten die Zivilregierungen nach der schrittweisen Ablösung der Militärdiktaturen in den achtziger Jahren wenig Interesse, die nationalen Streitkräfte über Gebühr zu stärken. So kam es zu Kuriositäten wie in Bolivien oder Argentinien, wo die Luftwaffe Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg nutzt. Lateinamerika war vor 30 Jahren ein Erdteil, der gemessen am Bruttoinlandsprodukt die geringsten Rüstungsausgaben verbuchte. Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein, vor allem die Waffenschmieden aus Europa hoffen auf wachsende Nachfrage und Profite. Bad Guy Chávez „Fast alle Länder der Region haben wenig Grund für wachsende Militärausgaben“, meint der britische Rüstungsexperte Robert Munks. Einzig zwischen Chile und Peru (Grenzkonflikt) sowie Kolumbien und Venezuela (US-Militärbasen und FARC-Guerilla) bestünde die vage Möglichkeit eines zwischenstaatlichen Konflikts. Ohne äußeren Gegner muss eben der Feind im Innern bekämpft werden. In Peru soll ein Wiedererstarken der maoistischen Guerilla Leuchtender Pfad ein 480-Millionen-Euro-Rüstungspaket begründen, bei dem die Opposition vermutet, es seien kräftig Schmiergelder geflossen. Und die Regierung in Bogota rechtfertigt 800 US-Soldaten auf sieben Basen gebetsmühlenartig mit dem „Kampf gegen den kommunistischen Narco-Terrorismus.“Bedroht von so viel Nähe der USA fühlen sich die links regierten Nachbarn Venezuela und Ecuador. Zur Beinahe-Eskalation kam es im März 2008, als kolumbianische Kommandos mit US-Hilfe ein FARC-Lager auf ecuadorianischem Territorium bombardierten. Auf den frechen Völkerrechtsbruch reagierten die Präsidenten Chávez und Correa mit einem Truppenaufmarsch an den Grenzen. „Die Militärdoktrin der Chávez-Regierung basiert auf einer möglichen Invasion der Vereinigten Staaten oder Kolumbiens“, erklärt Robert Munks Venezuelas Schutzbedürfnis.Dass ein gern gezeichnete Bild vom Kriegstreiber Chávez als bad guy schlichtweg falsch ist, zeigen Fakten: Der größte Waffenkäufer der Region ist heute Brasilien. Unter der Lula-Regierung wuchs dessen Verteidigungshaushalt um 50 Prozent. Damit steht das Land, das die Weiten des Amazonasbeckens wegen der Drogenmafia und militanter Schmuggler im Auge behält, aber auch seine letzten Rekord-Öl-Funde vor der Atlantikküste vor fremdem Zugriff schützen will, an zwölfter Stelle in der Welt. Auf Brasilien folgt Chile, das mit seinen niederländischen F-16-Jets und britischen Fregatten immer noch über die modernste Armee Lateinamerikas verfügt.