Afghanistan Präsident Hamid Karzai verhandelt mit der pakistanischen Armee, um auf eigene Faust einen ihm genehmen Nachkriegsstatus für sein Land abzusichern
Vor etwa einem Monat aß ich in Kabul mit Amrullah Saleh zu Abend, der damals noch Hamid Karzais Sicherheitschef war. Saleh ist ein zäher, stämmiger und einschüchternder Tadschike mit einem bohrenden, ungerührten Blick, der einst als Schützling Ahmed Shah Massouds, des legendären Löwen von Panjshir, bekannt wurde. Unter Massoud gehörte Saleh zu denen, die bereits vor dem 11. September 2001 in Afghanistan gegen die Taliban kämpften. Mit dieser Referenz arbeitete er nach der Eroberung von Kabul, Kandahar und Kunduz ab Ende 2001 für die USA. Er verhörte alle Taliban, die er nur aufstöbern konnte – mit wenig Rücksicht auf die Menschenrechte. Die Gotteskrieger und ihre Unterstützer innerhalb des pakistanischen Gehei
heimdienstes ISI erklärten ihn zum "erbitterten Feind", worauf er enorm stolz war.Während des bewussten Essens sprach Saleh ausführlich darüber, wie sehr ihn die Ineffizienz der Regierung Karzai im Kampf gegen die Taliban und das Ausmaß frustrierten, in dem der ISI Aufständischen in Waziristan und Balutschistan nach wie vor helfe.Die Amerikaner sind draußenDass die Nachricht von Salehs Entlassung Anfang Juni für wesentlich geringeren Wirbel sorgte als die Entlassung von General McChrystal, ist ein Indiz dafür, wie wenig der Westen den Konflikt in Afghanistan versteht. McChrystals Abschied spiegelt keinen entscheidenden Strategiewechsel, anders als die Entlassung Salehs, die von einem bedenklichen Richtungswende Karzais zeugt. Wie Obamas Berater Bruce Riedel sagte, als er die Nachricht erhielt: „Karzais Entscheidung, Saleh und Innenminister Hanif Atmar zu feuern, beunruhigt mich mehr als jede andere Entwicklung, denn sie bedeutet, dass Karzai bereits ein post-amerikanisches Afghanistan vorbereitet.“Inzwischen wird klarer, welchen Charakters diese Pläne sind: Es hat sich herausgestellt, dass ISI-Chef, Generalleutnant Ahmad Shuja Pasha, Karzai einen geheimen Besuch abgestattet hat. Am 4. Juli soll Pakistans Generalstabschef, General Kayani, in Kabul eintreffen, vermutlich um einen wie auch immer gearteten Deal zu bekräftigen. Es scheint, als würden die Pakistani eine Einigung zwischen Karzai und dem von der ISI protegierten jihadistischen Netzwerk Sirajuddin Haqqani anregen. Danach würde ein großer Teil des paschtunischen Südens Haqqani überlassen, während Karzai in Kabul an der Macht bliebe. Die USA wurden nicht miteinbezogen, ihre Verwaltungsbeamten sind offenbar überrascht und beunruhigt.Das Problem scheint nach wie vor zu sein, dass wir die Situation in Afghanistan mit westlichen Augen sehen – als Schlacht zwischen USA und NATO gegen al Qaida und Taliban. Doch intern gilt der Krieg vor allem als ein Aufstand der Paschtunen gegen ein von den Ethnien der Tadschiken, Usbeken und Hasara dominiertes Regime, für das Karzai nur als Feigenblatt dient. Obwohl der Präsident Paschtune ist, hat er mitangesehen, wie die NATO in Kabul die Nordallianz installiert und die Paschtunen quasi entmachtet hat.Nur Kleindarsteller So hat der Westen unwissentlich im afghanischen Bürgerkrieg, der seit den siebziger Jahren währt, Partei ergriffen – mit dem Norden gegen den Süden, mit dem städtischen gegen den ländlichen Raum, mit dem Säkularismus gegen den Islam und mit den Tadschiken gegen die Paschtunen. Es wurden eine Regierung eingesetzt und eine Armee ausgebildet, durch die in vielerlei Hinsicht die Paschtunen diskriminiert sind. Ihre Top-Down-Struktur ließ wenig Raum für Föderalismus oder regionale Vertretung. Egal, wie sehr westliche Liberale die Taliban auch verabscheuen mögen, so sind sie doch in gewisser Hinsicht die authentische Stimme des ländlichen paschtunischen Konservatismus, dessen Wünsche von der Exekutive in Kabul ignoriert werden und dem im Wesentlichen kein Einfluss zugestanden wird.Extern hat sich der Krieg nun – ähnlich wie der Konflikt in Kaschmir – in einen indisch-pakistanischen Stellvertreterkrieg verwandelt, bei dem die NATO nur Kleindarsteller ist. Unter Karzai konnte Indien seinen politischen und ökonomischen Einfluss in Afghanistan ausweiten, davon zeugen vier Regionalkonsulate und Wiederaufbauhilfen im Umfang von 662 Millionen Dollar. Pakistans militärische Führungsriege, die stets Indiens Aufstieg zu einer neuen Supermacht fürchtet, hat es schon immer für selbstmörderisch erachtet, eine indische Präsenz in ihrem strategischen afghanischen Hinterhof zu dulden. Sie ist bereits angesichts der kleinen indischen Präsenz vollkommen paranoid. Ähnlich, wie dies einst für die Briten zutraf, als die Sowjets in Afghanistan standen.Laut Diplomaten-Quellen leben noch immer weniger als 3.600 Inder in Afghanistan, die meisten von ihnen sind Geschäftsleute und Leiharbeiter. Der indische Staat hat nur zehn Diplomaten im Land – die britische Botschaft im Vergleich 150.Die Angst, von Indien wie in einem Nussknacker zerquetscht zu werden, hat den ISI dazu veranlasst, Afghanistans innere Sicherheit und Stabilität aufs Spiel zu setzen wie auch die Beziehungen zum wichtigsten Alliierten USA, um die Taliban im Spiel zu halten. In welchem Ausmaß der Geheimdienst die afghanischen Taliban lenkt, wurde erst jetzt deutlich. Ein Bericht des Centre for Human Rights der Universität Harvard, der auf Interviews mit zehn Ex-Taliban-Kommandeuren basiert, belegt, dass ISI-Mitarbeiter sogar Teilnehmer oder Beobachter im Rat des Taliban-Führungszirkels, der Quetta Shura, sind.Karzais Deal mit den Pakistani und seine deutliche Absicht, zu versuchen, mit dem Haqqani-Flügel der Taliban durch pakistanische Vermittlung eine Einigung zu erzielen, bedeuten deshalb einen wichtigen strategischen Sieg für die pakistanische Armee und eine schwere diplomatische Niederlage für Indien. Freilich bleibt abzuwarten, ob der ISI die Taliban wirklich an den Verhandlungstisch bekommt, da diese bislang bekräftigen, dass sie nicht bereit seien, mit Karzai zu sprechen. Ebenso bleibt unklar, ob das pakistanische Militär das eigene Land gegen den jihadistischen Frankenstein, den es geschaffen hat, verteidigen kann.Übersetzung: Christine Käppeler
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