Ägypten Seit dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar explodieren besonders in den Städten die sozialen Erwartungen Hunderttausender, doch der Militärrat winkt vorerst ab
Die Bewohner von Kairos Al-Me‘adessa-Straße wissen nicht, wann die Steine herunterfallen werden: Nachts, wenn alle schlafen, oder tagsüber, wenn die Kinder auf den Dächern spielen. Was sie ahnen – jene Felskuppe, die etwa 20 Meter über ihren baufälligen Häusern emporragt, wird irgendwann auf sie herabstürzen, wie dies einen Kilometer die Straße hinunter bereits geschehen ist. Über hundert Menschen kamen dabei zu Tode. „Wir leben jede Minute in Angst“, sagt Umm Rahman, Mutter dreier kleiner Kinder. „Wir wollen eigentlich hier raus, können aber nirgendwo hin.“
Die meisten Ägypter haben vermutlich noch nie von der Al-Me‘adessa-Straße gehört, einem Gewirr aus Stromleitungen, maroden Hä
den Häusern und stinkendem Abfall, gelegen tief im Herzen einer der größten Squattersiedlungen Kairos und im Schatten des Berges Mokattam. Die Sorgen der Leute hier lassen begreifen, was die Architekten eines Post-Mubarak-Ägyptens zu leisten haben, und werfen die Frage auf, wofür die ägyptische Revolution wirklich steht. Die Einwohner der al-Me‘adessa zählen zu den zwölf Millionen Ägyptern der Slum-Distrikte, die man hier Ashwa‘iyat nennt, was wörtlich übersetzt so viel wie „zufällig“ oder „wahllos“ heißt. Diese Quartiere sind über Jahrzehnte hinweg im Sog der Gleichgültigkeit eines Regimes entstanden, das zusah, wie akute Wohnungsnot die Armen und Ärmsten traf. Die Opfer dieser Ignoranz leben in ständiger Gefahr, bei Überschwemmungen oder durch Steinschläge ihr Leben zu verlieren.Jahrelange Immobilienspekulation unter Mubarak haben dazu geführt, dass heute in Ägypten eine Million Appartements leer stehen, und dennoch Wohnungen massenhaft fehlen, die bezahlbar sind. Seit der Diktator abdanken musste, erhebt die Ashwa‘iyat-Community ihre Stimme. „In der Vergangenheit haben wir ohne Achtung vor uns selbst gelebt“, sagt der 35-jährige Mohammed Abdel Nabi aus der al-Me‘adessa, der eine Kampagne zum Umzug der Bewohner ins Leben gerufen hat. „Im Moment haben wir Hoffnung, dass sich etwas ändert. Doch wir wollen die Situation nicht ausnutzen, um Vorteile für uns herauszuschlagen. Jetzt ist es wichtig zu bauen und nicht zu zerstören.“Sobald sich alte Gewissheiten auflösen, scheint die Stimmung wie geschaffen, mehr auf das eigene Leben und eigene Standards zu achten. Die Generäle, die das Land übergangsweise führen, haben harsch zurückgewiesen, was sie „Partikular-Interessen“ nennen. Ägypten sei im Augenblick zu fragil, um Erwartungen erfüllen zu können, die seit dem Sturz Mubaraks explodiert seien. Streiks und Proteste bleiben deshalb verboten. Slumbewohner sollen Bedürfnisse zurückstellen, bis der Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft vollbracht ist.Eines der großen RätselDiesem Argument kann Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International (AI), wenig abgewinnen. „Bei der Revolution ging es ebenso sehr um soziale Gerechtigkeit wie um politische Freiheit. Die Regierung kann nicht sagen, sie kümmere sich erst um die Demokratie – alles andere müsse warten.“ Es hilft wenig, wenn Premier Essam Sharaf ankündigt, er wolle umgerechnet 16 Millionen Euro zur Modernisierung der Slumgebiete ausgeben. Angesichts der Dimension dieses Terrains kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.Zur großen Sorge von Aktivisten wie Abdel Nabi erfolgt die Umsiedlung von Slumbewohnern oftmals ohne Absprache mit den betroffenen Communities. Dem Egyptian Centre for Housing Rights zufolge holt die Regierung zu großen Vertreibungen aus und lässt Bagger im Geleit bewaffneter Polizisten auffahren, um ganze Wohnblocks abzureißen.Noch unter Mubarak entwickelten die Behörden unter dem Label Kairo 2050 gewaltige Vision zur Stadtentwicklung. Gedacht war an eine „international wettbewerbsfähige“ Metropole und ein Abräumen von Quartieren, zu denen die Al-Me‘adessa-Straße gehören sollte. Für die gewonnenen Flächen waren kauffreudige Bauunternehmen gefragt, denen es überlassen blieb, was sie damit anfangen wollten. Noch ist offen, ob der Militärrat das Projekt weiter verfolgt oder aufgibt. Dies dürfte weitgehend davon abhängen, ob und wie sich Widerstand der Slumbewohner artikuliert.Ägyptens Ashwa‘iyat bleiben eines der großen Rätsel für das vom Umbruch erfasste Land: Dicht besiedelt, durch mangelnde Investitionen am Boden gehalten, aber reich an effizienten Netzwerken, mit denen es die Bewohner sogar fertig bringen, sich mit Dienstleistungen selbst zu versorgen.Experten wie der britische Autor David Sims, der gerade ein neues Kairo-Buch vorgelegt hat, glauben, es müsse einen Wandel im sozialen Bewusstsein aller Bevölkerungsfraktionen geben, damit jeder Ägypter vom Sieg über Mubarak profitiert. „Die Revolution konzentriert sich bislang fast ausschließlich auf politische Strukturen. Selbst wenn die neu geordnet werden, besteht keine Garantie, dass die Manipulatoren und Opportunisten, die in der Vergangenheit so bestimmend waren, nicht wieder an Boden gewinnen“, schreibt Sims. „Es bedarf einer weiteren, komplizierteren Revolution, um Ministerien, Gerichte und Wirtschaftsbehörden so umzugestalten, dass ein Gefühl für Verantwortung und Transparenz die Entwicklung der Städte prägt.“ AI-Generalsekretär Shetty stimmt zu. „Ägypten ist kein armes Land, sondern eines mit mittleren Einnahmen und zählt zu den größten Empfängern von US-Hilfen. Es wäre absurd, würden die Behörden behaupten, sie besäßen nicht die Mittel, um etwas gegen miserable Wohnverhältnisse von Millionen Menschen zu tun. Wenn sie jetzt nicht handeln, wird es eine zweite Revolution geben.“
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