Auf dem G20-Treffen in Cannes ab dem 3. November dürfte recht deutlich werden, dass die Vormachtstellung Europas und Nordamerikas endgültig der Vergangenheit angehört
Die französische Riviera im November – das beschwört Bilder alternder Playboys herauf, die sich auf der Croisette die letzte Herbstsonne mit einem Glas Pastis verlängern. Mit Cannes könnte Nicolas Sarkozy also einen passenden Tagungsort für den G20-Gipfel gewählt haben, bei dem der Kontrast zwischen dem in Niedergang befindlichen alten Ökonomien Europas und den neureichen, aufstrebenden Wirtschaften Chinas, Indiens und Brasiliens schärfer denn je konturiert wird.
Der für Präsident Sarkozy erniedrigende Anruf in Peking vor Wochenfrist und die Frage, ob die Chinesen nicht in die Stabilität des europäischen Finanzsystems – den großen Euro-Rettungsfonds (EFSF) – investieren wollten, wurde in China als speichellec
Übersetzung: Holger Hutt
peichelleckerisch beschrieben. Brasiliens Finanzminister Guido Mantegna erklärte rasch, sein Land hege nicht die Absicht, sich an diesem Stabilisierungsfonds zu beteiligen. Auch Silvio Berlusconi musste sich erniedrigen und einen Brief an seine EU-Nachbarn zu schreiben, um zu versprechen, als Gegenleistung für Hilfszahlungen seinen Haushalt auf Vordermann zu bringen.Null Prozent Die Europäer werden also nachdrücklich daran erinnert, dass die Vorherrschaft des alten Kontinents dank eine Kombination aus eigenem Missmanagement und dem unaufhaltsamen Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte der Vergangenheit angehört. Jonathan Loynes, Chefökonom für Europa beim Beratungsunternehmen Capital Economics, sagt: „Die Tatsache, dass Europa dieses Geld braucht, ist ein klares Zeichen dafür, wie sehr seine wirtschaftliche Gesundheit zumindest kurzfristig geschwunden ist.“ Charles Dumas von Lombard Street Research meint: „Die optimistische Wachstumsprognose für Europa liegt bei Null Prozent, das pessimistische Szenario bedeutet Depression.“Diese Botschaft werden Angela Merkel und ihre Kollegen deutlich zu hören bekommen, wenn sie in Südfrankreich die Abordnungen Chinas, Indiens und anderer G-20-Länder treffen. Vor der Weltfinanzkrise 2008 wurden die meist recht selbstgefälligen Veranstaltungen namens G8-Gipfel in der traditionellen Besetzung USA, Deutschland, Japan, Frankreich, Großbritannien, Kanada und Italien begangen. Seit 1997 durfte Russland mitmachen, um zu bekräftigen, dass jetzt auch ein post-kommunistisches Land dazu gehöre. Dabei war schon vor der schlimmsten Finanzkrise seit Menschengedenken klar, dass die G8 die Weltökonomie nicht mehr angemessen repräsentierten.Der Goldman-Sachs-Ökonom Jim O'Neill hat 2001 den Begriff BRIC geprägt, um die aus Brasilien, Russland, Indien und China bestehende, disparate Gruppe zu beschreiben, die seiner Meinung nach bald mehr Einfluss auf der Bühne der Weltwirtschaft ausüben würde. Im folgenden Jahrzehnt haben sich weitere Volkswirtschaften der Gruppe der viel versprechenden Start-up-Unternehmen angeschlossen, Nigeria und Ägypten etwa oder Indonesien. Die Kreditkrise, die das Wachstum in Europa und den USA für Jahre hemmen könnte, wird diese Aufholjagd nur beschleunigen.In der Anfang 2011 veröffentlichen umfassenden Studie The World in 2050 sagten die Ökonomen von PricewaterhouseCoopers voraus, dass gemessen an der Kaufkraftparität – sie berücksichtigt den Umstand, dass man sich für einen Dollar in Shanghai wesentlich mehr kaufen kann als in New York – China bereits heute die zweitgrößte Volkswirtschaft sei. Im Jahr 2050 würden die USA auf Rang drei abfallen, während Indien, Brasilien, Mexiko und Indonesien sich allesamt in den Top Ten befänden. Ökonomen sprechen dabei von „Aufholeffekt“. Technologische Innovationen werden zwar immer noch zuerst in Silicon Valley oder dem deutschen Mittelstand gemacht, in einer globalisierten Wirtschaft könnten sie aber schnell von Firmen und Familien angeeignet werden, die sich Tausende Meilen entfernt befinden, und dort dem Wirtschaftswachstum weiteren Auftrieb geben. Nichts dabei läuft automatisch ab: Die Politik spielt ebenfalls eine Rolle. Chinas Aufstieg vom in sich geschlossenen kommunistischen Staat hin zur Werkbank des 21. Jahrhunderts beschleunigte sich, nachdem das Reich der Mitte im Dezember 2001 der Welthandelsorganisation beigetreten war.Noch nicht erste LigaDurch den leichteren Zugang zu den weltweiten Verbrauchermärkten verfolgte China schonungslos das Modell eines auf Export gestützten Wachstums und türmte den USA und Europa gegenüber riesige Handelsbilanzüberschüsse auf. Dafür kauften sich die Chinesen in Dollars und andere Währungen ausgegebene Wertpapieren, um den Yuan billig und ihre Waren wettbewerbsfähig zu halten. Die zehn Prozent Wachstum pro Jahr sind sowohl das Ergebnis gezielter Politik als auch der schieren Größe des Landes geschuldet. Viele Beobachter befürchten, China könnte in den kommenden zwölf Monate eine „harte Landung“ erleben, wenn der rasche Anstieg der Immobilienpreise ins Gegenteil umschlägt. Gerard Lyons, Chefökonom bei Standard Chartered, der China oft besucht, ist indes fest davon überzeugt, dass jeder Rückschlag lediglich von vorübergehender Natur sein wird. Er sieht die Weltwirtschaft inmitten ihres dritten großen „Super-Zyklus“. Der erste fand gegen Ende des 19. Jahrhunderts statt, als Großbritannien sich zur Wirtschaftsmacht entwickelte; der zweite in der Nachkriegszeit, gekennzeichnet durch Japans Aufstieg, der die neue Hegemonialmacht USA in Bedrängnis brachte und die dritte eben heute, da China, Indien und mehrere andere Entwicklungsländer sich zu Großmächten entwickeln.Der Aufstieg des „Ostens“ kennt freilich zwei wesentliche Einschränkungen: Zum einen werden die großen Bevölkerungen Chinas, Indiens und Indonesiens zwar mit dazu beitragen, diese Staaten in die erste Liga zu katapultieren – es wird aber noch wesentlich länger dauern, bis die Menschen dort einen westlichen Lebensstandrad erreicht haben. Das Durchschnittseinkommen liegt in China gerade einmal bei 15 Prozent des heutigen US-Niveaus, und selbst 2050 wird es Erwartungen zufolge immer noch über 50 Prozent geringer liegen als das US-amerikanische.