Ein kleiner Teil der Wahrheit

News of the World Im britischen Abhörskandal hat sich der Murdoch-Konzern mit 36 Opfern außergerichtlich auf Entschädigung geeinigt. Doch noch immer ist unklar, wer wann was wusste

Als Rupert Murdochs Boulevardblatt News of the World im vergangenen Juli überraschend eingestellt wurde, stellte sich die Geschäftsführerin vor die versammelte Mannschaft der nun arbeitslosen Journalisten und sagte: „Es ist gut möglich, dass in einem Jahr jede und jeder von Ihnen in diesem Raum wird sagen können 'Jetzt kann auch ich erkennen, was sie gesehen hat.'“ ' Nach einer außergerichtlichen Einigung des Murdoch-Konzerns mit drei Dutzend Opfern des Bespitzelungsskandals fangen wir in der Tat an zu verstehen, was Rebekah Brooks damals meinte.

Es fällt einem kein anderer Fall ein, bei dem ein Zeitungsverlag sich so unterwürfig bei einer ganzen Gruppe von Klägern entschuldigen musste, wie Murdoch dies am Donnerstag getan hat. Doch waren diese drei Dutzend Kläger lediglich die Spitze des Eisbergs: Wir wissen bisher von 800 bestätigten Opfern des Skandals. Am bemerkenswertesten ist aber, was der Vorsitzende Richter als eine „Art Eingeständnis“ bezeichnete: Führende Mitarbeiter und Verantwortliche von Zeitungen der News Group wussten über die kriminellen Aktivitäten Bescheid, und sie suchten diese durch öffentliche Falschaussagen zu kaschieren, täuschten bewusst die Polizei und vernichteten wichtige Beweise – darunter ganze Festplatten und eine große Menge an E-Mails. Mit anderen Worten: Man stimmte den Schadensersatzforderungen zu, weil auf den höchsten Ebenen des einst von James Murdoch geführten Unternehmens systematisch Vertuschung betrieben wurde. Sollte sich dies bestätigen, wäre es ein beschämendes Zeugnis für eine Institution, deren Selbstverständnis darin besteht, die Wahrheit ans Licht zu zerren und die Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen.

Mitleid und Abwiegelei

Polizei und Staatsanwaltschaft müssen sich nun mit den Lügen auseinandersetzen sowie mit der Behinderung derer, die versuchten, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Dass der Konzern einlenkte, bevor es zu einer Urteilsverkündung kam, gibt einen Hinweis auf Geisteshaltung und Funktionsweise des Unternehmens. Ungeachtet seiner öffentlichen Mitleidsbekundungen (der “demütigendste Tag“ … „Es tut uns leid“) bleibt Rupert Murdoch ein Straßenkämpfer. Bis an die Schwelle des Gerichtssaals zeigte er sich angriffslustig und wiegelte ab. Nur der Mut einer Gruppe beharrlicher Kläger – und geschicktes juristisches Vorgehen – brachten das weltweit mächtigste Medienunternehmen dazu, einzulenken und wenigstens mit einem Teil der Wahrheit herauszurücken.

Natürlich ist noch immer nur ein Teil der Wahrheit offenbar. Noch immer wissen wir nur bruchstückhaft, wer wann was wusste, wer wen anlog, und wer versuchte, wann welche Beweise zu vernichten. Es wird weiterer Verfahren vor Zivil- und/oder Strafgerichten bedürfen, um all diese weiterhin ungeklärten Einzelheiten ans Licht zu bringen . Auch das Unterhaus hat durch die jahrelange Befragung widerwilliger und vergesslicher Zeugen zu dem Ergebnis von Donnerstag beigetragen. Gleiches gilt für die Presse. Die Anwälte der Kläger waren so großzügig, in ihrer Erklärung den Beitrag von Guardian und New York Times zu diesem Teilerfolg hervorzuheben.

Nationales Interesse

Alle Beweise aus Zivil- und Strafrechtsprozessen werden schließlich an Lord Justice Leveson, weitergeleitet werden. Dieser versucht, ein Gesamtbild zusammenzusetzen und herauszufinden, wie sich dieser groteske Fall pervertierter journalistischer Ethik einfügt in die journalistische, politische, wettbewerbspolitische und gesetzgeberische Landschaft Großbritanniens. In gewissen journalistischen Kreisen herrscht die Ansicht, Leverson mache viel Lärm um wenig. Die jetzt erzielte außergerichtliche Einigung erinnert nachdrücklich daran, warum das nicht stimmt.

Der einflussreichste Zeitungsverlag, den dieses Land je kannte, war eine Zeitlang gefährlich außer Kontrolle geraten. Er betrog Polizei, Aufsichtsbehörden, Presse, Öffentlichkeit und Parlament und stand nur wenige Tage vor der Verdopplung seiner Größe, Einkünfte und seiner Macht. Deshalb gibt es nun eine öffentliche Untersuchung.

Bei nahezu jeder neuen Wendung der Abhörsaga hat sich die Wahrheit im Nachhinein als schlimmer herausgestellt als alles, was man sich vorher hatte vorstellen können. Zuletzt versuchte ein Anwalt der News Group-Blätter erneut, Dokumente zu blockieren, die über die Vertuschungsaktionen Aufschluss geben könnten. Doch hielt ihm Richter Vos entgegen, die Aufklärung des Falles sei von höchstem nationalen Interesse. Recht hat er.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Editorial | The Guardian

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