Kleinster gemeinsamer Nenner

Syrien Der Annan-Plan ist derzeit absolut alternativlos. Entgegen anders lautender Behauptungen würde eine NATO-Intervention die Lage wohl dramatisch verschlechtern

Der Waffenstillstand zwischen den syrischen Konfliktparteien zeigt, dass Russland, China und in gewissem Maße auch Iran durchaus in der Lage sind, Druck auf Damaskus auszuüben. Vorausgesetzt, sie wollen das. UN-Emissär Kofi Annan hat es geschickt verstanden, bei den Schutzmächten Syriens die Sorge einer Eskalation und Ausweitung des Konflikts zu schüren. Nun ist erstmals seit Monaten eine relative Ruhe eingekehrt. Annans Sechs-Punkte-Plan ist alternativlos: Nach dem russischen und chinesischen Veto gegen ein UN-Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung haben weder die Arabische Liga noch Moskau und Peking einen Plan B in der Schublade. Nachdem sie sich auf Annan eingelassen haben, der keinen Regimewechsel verlangt, sondern lediglich einen „umfassenden von Syrien angeführten Prozess“ fordert, „der den legitimen Erwartungen und Bedenken der syrischen Bevölkerung Rechnung trägt“, bleibt Russland und China nichts anderes übrig, als dafür zu sorgen, dass dieser Prozess zumindest beginnt.

Nur ein Spiel auf Zeit?

Doch mehr als ein Anfang ist diese Waffenruhe keineswegs. Die anderen fünf Punkte in Annans Plan fordern Bashar al-Assad auf, seine Truppen aus den Ballungszentren abzuziehen; den Zugang für Hilfslieferungen zu gewährleisten; willkürlich Gefangen-Genommene zu entlassen, Journalisten frei agieren zu lassen sowie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht zu respektieren. Da nach wie vor Panzer und Truppentransporter in den Hochburgen der Opposition patrouillieren, hat Annan seine Forderung, die Armee müsse sich – überwacht von einer UN-Mission – aus den Städten zurückziehen, umgehend wiederholt. Im Vorjahr sind so viele Vermittlungen gescheitert, dass man geneigt ist, auch diesen Waffenstillstandsplan als weiteren Versuch des syrischen Machthabers abzutun, auf Zeit zu spielen.

Es wäre jedoch ein fataler Fehler, das Annan-Tableau voreilig zu verwerfen und auf die Argumentation zu verfallen, da Syrien bereits völlig außer Kontrolle sei, könne ein Eingreifen der NATO den Konflikt auch nicht noch mehr verschärfen. Eine Intervention von außen würde das auf jeden Fall bewirken. Trotz der abgeklärten Worte, die in dieser Woche aus Ankara zu hören waren, als in einem türkischen Flüchtlingscamp nahe der syrischen Grenze zwei Menschen erschossen wurden, ist die Türkei äußerst zurückhaltend, was die Einrichtung einer Schutzzone auf syrischem Gebiet angeht. Ein regionaler Krieg an ihrer Grenze zu Syrien ist das Letzte, was die Türkei will und gebrauchen kann. Premier Erdogans Beschwörung der Bündnisverpflichtung seiner NATO-Partner stellt einen weiteren Beleg dafür dar, wie wenig sein Land gewillt ist, allein zu handeln. Wenn man darüber hinaus bedenkt, wie uneins die Opposition ist, und in Betracht zieht, dass die bewaffneten Rebellengruppen nirgends stark genug sind, um es mit den Regierungstruppen aufzunehmen, und die Dschihadisten im Westen des Irak nur über die Grenze schlüpfen müssen, um dort Chaos anzurichten – und wenn man dann noch die Hisbollah und den Iran mit ins Kalkül zieht, dann ist der stattfindende Bürgerkrieg nichts gegen das Blutvergießen, das sich aus einer Intervention ergeben würde.

Deal à la Jemen

Gewiss: Das Töten hat nicht aufgehört. Die Aktivistengruppe des Örtlichen Koordinierungsrates behauptet, auch gestern seien elf Mensch durch die syrischen Sicherheitskräfte ums Leben gekommen: sechs in Homs, vier in Idlib und ein Syrer in Damaskus. Das ist wesentlich weniger als die durchschnittliche Todesrate in den Tagen zuvor. Anstatt den Annan-Plan zu verwerfen, liegt es im Interesse aller – besonders im Interesse der syrischen Zivilbevölkerung –, dass der Plan gelingt. Sollte Präsident Assad dafür sorgen, dass es so kommt, wäre das für ihn nicht der Anfang vom Ende, wie ein Mitglied des Syrischen Nationalrats behauptet, aber immerhin das Ende einer militärischen Unterdrückung des Arabischen Frühlings in Syrien. Ohne den Plan ist ein Deal nach jemenitischem Vorbild – der Präsident geht, aber große Teile des Regimes bleiben unangetastet – wesentlich wahrscheinlicher.

Kofi Annan bleibt nicht viel Zeit. Die wahre Herausforderung für ihn besteht darin, Russland und China bei der Stange zu halten. Seine Position ist die einzige, auf die sich der Sicherheitsrat bislang verständigen konnte – der kleinste gemeinsame Nenner, der sich dennoch als entscheidend herausstellen könnte. Wenn der Plan scheitert, würden Russland und China geschwächt in den Sicherheitsrat zurückkehren.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Editorial | The Guardian

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