In vier diplomatischen Noten bot die sowjetische Führung vor 60 Jahren dem Westen eine neue Nachkriegsordnung an. Wie ernst das gemeint war, ist bis heute umstritten
Am 10. März 1952 macht Josef Stalin mit einer diplomatischen Note den drei Westmächten ein erstaunliches Angebot. Die Rede ist von der „Wiederherstellung Deutschlands als einheitlichem Staat“ und von einer militärischen Neutralisierung, also von einer Blockfreiheit Gesamtdeutschlands. Dazu soll es einen Rückzug der Besatzungstruppen, eine deutsche Verteidigungsarmee, volle wirtschaftliche Souveränität, eine „freie Betätigung für demokratische Parteien und Organisationen“ und die gleichberechtigte Teilnahme aller ehemaligen Angehörigen der deutschen Armee sowie einstigen NSDAP-Mitglieder (mit Ausnahme verurteilter Kriegsverbrecher) „am Aufbau eines friedliebenden, demokratischen Deutschlands“ geben.
Der Vorsto
r Vorstoß folgt einem klaren Kalkül. Die Verhandlungen der westlichen Siegermächte über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und den „Deutschlandvertrag“, der das Besatzungsstatut von 1949 ablösen und die Souveränität des Bonner Staates erweitern soll, stehen kurz vor dem Abschluss. Insofern will Stalin mit seiner Offerte vor allem eines bewirken – die Integration Westdeutschlands in eine Militärallianz zur „Verteidigung der westlichen Welt“ (Art. IV, Absatz 4 des Generalvertrags) verhindern. Was Moskau auf den Tisch legt, ist ein Paket abgestimmter Maßnahmen. Sie hätten Ost wie West verändert, wären sie ernsthaft geprüft und angenommen worden. Die SED hätte in einem wieder vereinigten Deutschland ihre im Osten durchgesetzte Vorherrschaft ebenso verloren wie die CDU/CSU die ihre im Westen.Distanzierte AntwortVon Anfang an gingen die Meinungen darüber auseinander, ob Stalins Angebot mehr war als ein propagandistischer Bluff. Trotz der Einsichten, die nach 1990 eine teilweise Öffnung der Archive in Ost und West gebracht hat, bleibt bis heute vieles ungeklärt. Wer die Stalin-Noten erschöpfend deuten will, begibt sich auf das heikle Feld des „Was wäre, wenn“ und bleibt im Hypothetischen gefangen .Von westlicher Seite wurden seinerzeit das Thema freie Wahlen und die Frage, wie ein solches Votum in der DDR zu kontrollieren wäre, als vorrangig behandelt. Stalin schickte deshalb am 9. April 1952 eine zweite Note. Darin bekräftigte er, freie Wahlen seien garantiert. Zugleich erklärte er die Grenzfrage als nicht verhandelbar. Auf der Potsdamer Konferenz 1945 hatten die Siegermächte die Oder-Neiße-Grenze als Provisorium bis zum Abschluss eines Friedensvertrags deklariert. Daran hielt die Regierung Adenauer fest, da sie nach wie vor glaubte, eines Tages ohne Krieg zu einem Deutschland in den Grenzen von 1937 zurückkehren zu können. Die sowjetische Seite und ihre osteuropäischen Partner dagegen wollten das Potsdamer Provisorium für alle Zeiten festschreiben. So fiel am 13. Mai 1952 die Antwort der Westmächte auf die beiden ersten Noten eher distanziert aus und betonte einen Punkt, auf dem besonders Kanzler Adenauer beharrte. Er wollte zunächst freie Wahlen in Gesamtdeutschland haben und dann erst in Verhandlungen über einen Frieden eintreten. Stalin bestand auf der umgekehrten Reihenfolge, da die anstehende Unterzeichnung des Deutschland- und des EVG-Vertrags nur durch einen sofortigen Beginn von Gesprächen aufhaltbar schien.Die dritte Note Stalins folgte am 24. Mai 1952, zwei Tage vor der Signierung des Deutschlandvertrags in Bonn und des EVG-Vertrags in Paris. Diese wie auch eine vierte Demarche vom August 1952 brachten keine neuen Akzente – sie können nach Meinung vieler Historiker bestenfalls taktisch-propagandistische Bedeutung beanspruchen.Der Stellenwert der beiden ersten Noten hingegen bleibt bis heute umstritten. In den Augen Adenauers wollte Moskau „die Bundesrepublik auf den unfreien Status eines Satellitenstaates herabziehen und den Zusammenschluss Europas unmöglich machen“. Er plädierte dafür, die EVG-Verhandlungen fortzusetzen, „als ob es die Noten nicht gäbe“, und benutzte die Debatte über Stalins Diplomatie, um in der westdeutschen Öffentlichkeit eine forcierte Westintegration abzusichern. Jakob Kaiser, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, warf Adenauer daraufhin vor, „amerikanischer als die Amerikaner“ zu sein. Kaiser schwebte ein neutralisiertes Deutschland als Vermittler zwischen Ost und West vor, und er wollte ernsthafte Gespräche mit den Sowjets. Auch die Politiker Thomas Dehler (FDP) und Gustav Heinemann (Gesamtdeutsche Volkspartei) sowie der FAZ-Herausgeber Paul Sethe nahmen Stalin ernst und wollten, dass Bonn verhandelt.In der Geschichtsforschung vertraten später die Historiker Rolf Steininger und Jochen Laufer die Auffassung, dass es sich bei den Offerten um reale Optionen und nicht bloß um propagandistische Manöver gehandelt habe. Wer die Vorgeschichte der Noten von 1952 betrachtet, der erkennt, dass sie nicht nur dem Motiv folgten, eine irreversible Westintegration der Bonner Republik zu blockieren. Sowjetische Entwürfe für die „Grundlage des Friedensvertrags mit Deutschland“ gab es bereits 1947 und 1949. Insofern war Stalin im Jahr 1952 vorrangig darauf bedacht, die beginnende internationale Aufwertung des westdeutschen Staates auf Kosten der DDR zu konterkarieren und „die Sonderentwicklung der SBZ abzusichern“ (Jochen Laufer). Stalin hatte schon am 15. April 1947 gegenüber US-Außenminister George Marshall „gegen eine Teilung oder Zerstückelung Deutschlands“ votiert – er fürchte, „deutsche Chauvinisten und Revanchisten“ könnten aus der Teilung des Landes Kapital schlagen. Mit seinem Angebot, normale Wehrmachtsoldaten nicht länger als Verbrecher einzustufen und eine deutsche Verteidigungsarmee zu dulden, gab der Sowjetführer zu verstehen, er sei bereit, nationale Ansprüche der Deutschen zu respektieren. Für Jakob Kaiser war „eine nationale deutsche Armee wertvoller“ als der EVG-Vertrag. Auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher wollte „keine Anstrengung“ scheuen, „um eine sich bietende Chance zur Wiedervereinigung und Befriedung Europas“ zu nutzen. Dabei argumentierte die SPD nicht primär aus nationaler Intention. Sie war überzeugt, den Preis für eine forcierte politische und militärische Westintegration der Bundesrepublik würden allein die Deutschen in der DDR zu zahlen haben.Noch 20 JahreFür Stalin war der durch eine Fluchtbewegung in Richtung Westen geschwächte ostdeutsche Staat – allein im ersten Halbjahr 1952 wurden im Westen 72.226 Übersiedler registriert – offenbar zu einer Hypothek geworden, die er los werden wollte, wenn sich damit ein westliches Militärbündnis verhindern ließ. Die DDR-Führung erhöhte daraufhin die Schlagzahl auf den Propaganda-Trommeln.Propaganda war auch bei Adenauer im Spiel, wenn er die Angst vor der „Soffjetunion“ schürte, indem er die Gefahr einer Auslieferung des Landes an den „asiatischen Osten“ beschwor. Im verbiesterten Klima des Kalten Krieges schaukelten sich beide Seiten gegenseitig hoch. Auf die Unterzeichnung des Deutschland- und des EVG-Vertrags Ende Mai 1952 reagierte die SED wenig später auf ihrer II. Parteikonferenz mit dem Beschluss zum „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR“ und der Aufstellung „bewaffneter Streitkräfte zur Verteidigung der Heimat gegen äußere Feinde“. Nicht zuletzt die westliche Ablehnung der Stalin-Noten diente als Vorwand und Rechtfertigung für diesen Schritt.Das Thema „Frieden in Europa“ wurde zum Spielball im ideologischen Nahkampf, politische Lösungen scheiterten am fehlenden Willen, sich zu verständigen. Dazu der Historiker Jochen Laufer: „Die seit 1946 öffentlich immer wieder erhobene Forderung, einen Friedensvertrag (…) für ganz Deutschland abzuschließen, stand auf Seiten aller beteiligten Mächte im umgekehrten Verhältnis zur tatsächlichen Bereitschaft, die notwendigen Kompromisse einzugehen.“ Es sollten noch 20 Jahre vergehen, bis die Zeit reif war für die Entspannungspolitik des Kanzlers Willy Brandt.