1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. In Deutschland gilt das Übereinkommen nur eingeschränkt – Flüchtlinge haben lediglich Rechte zweiter Klasse
Die Auseinandersetzung über die Rechte von Flüchtlingskindern in Deutschland ist eine schier unendliche Geschichte politischen Versagens; eine erbärmliche Folge der Verletzung von Fürsorge- und Obhutspflichten des Staates, nicht eingelöster Versprechen, des nachlässigen Umgangs mit internationalem Recht und der Missachtung von Parlamentsbeschlüssen.
Am 20. November 1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Die im Anschluss daran stattfindenden Beratungen über ihre Ratifizierung in Deutschland fanden im Spannungsfeld der „Asyldebatte“ Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre statt – in einer durch politische und mediale Kampagnen und rücksichtslose Instrumentalisierung von Flüchtlingen beispiellos angehei
os angeheizten Stimmung.Die Bundesregierung ratifizierte 1992 die UN-Kinderrechtskonvention (KRK), formulierte jedoch gleichzeitig einen Vorbehalt, der die Gültigkeit der Konvention beschränkte. Deutschland sollte weiterhin die Möglichkeit haben “Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen“. Ein Widerspruch zu den zentralen Absichten der Konvention, denn dort sind ein Nichtdiskriminierungsgebot und der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben. Dieser Vorbehalt, der bis heute existiert, besitzt einen gefährlichen rassistischen Charakter und führte in der Praxis zu behördlicher Benachteiligung und gesetzlicher Willkür gegenüber Flüchtlingskindern. Der Vorbehalt zur Kinderrechtskonvention war der repressiven Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen geschuldet, die der Demontage des Grundrechts auf Asyl 1993 vorausging.Der Regierungswechsel zu Rot-Grün Ende 1998 weckte zunächst Hoffnungen auf eine menschenrechtlich orientierte Migrations- und Flüchtlingspolitik. Das galt auch bezüglich der Rücknahme der Vorbehaltserklärung und der umfassenden Umsetzung der Kinderrechtskonvention für Flüchtlingskinder. Doch es kam anders. Der neue Innenminister, Otto Schily, setzte zwar nicht die ideologisch verfestigte Flüchtlingspolitik seines Vorgängers Manfred Kanther fort, ihm ging es vielmehr um eine „innovative“, von umfassender Kontrolle und staatlichen Regelungsbedürfnissen geprägte, effizientere Migrationspolitik. Flüchtlinge – selbst unbegleitete Kinder – blieben auch unter Schily mit staatlich organisierter und gesetzlich legitimierter Abwehr und Ausgrenzung konfrontiert.Schilys SpielregelnDa sich Schily zunehmender Kritik seitens der eigenen Koalition und von Menschenrechtsorganisationen gegenüber sah, ließ er die Sache ersteinmal prüfen. Schließlich erklärte er, die Länder hätten sich nicht „mehrheitlich“ für die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ausgesprochen. Aber unermüdliche Abgeordnete und Menschenrechtler ließen nicht locker, die Generalversammlung der Vereinten Nationen brachte ihre Besorgnis zum Ausdruck, der Petitionsausschuss stimmte einer Eingabe von Pro Asyl in vollem Umfang zu.Schließlich beschloss am 27. September 2001 der Deutsche Bundestag, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen und das Asylrecht an die Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention anzupassen. Nun war die Bundesregierung gefordert, den Beschluss umzusetzen. Schily änderte kurzerhand de Spielregeln und sprach plötzlich von „mangelndem Einvernehmen“ auf Länderseite, was so viel hieß wie: nicht einstimmig. Wenn einzelne Regierungsmitglieder – wie Otto Schily – die Beschlüsse des Parlaments nachhaltig ignorieren oder die Spielregeln des demokratischen Gemeinwesens verletzen, wäre es nicht Sache des Parlaments, läge es nicht in der Hand jedes und jeder Abgeordneten, auf die Umsetzung der gefassten Beschlüsse zu bestehen?Schließlich kam der Wechsel zur großen Koalition 2005. Die schwarz-rote Bundesregierung und ihr Innenminister Wolfgang Schäuble bekannten sich mehr als frühere Regierungen unter konservativer Führung zur Integration. Doch es half nichts. So erweckte der unmittelbar nach dem ersten Integrationsgipfel im Sommer 2006 vorgelegte Evaluationsbericht zum Zuwanderungsgesetz den Eindruck, dass es der verantwortlichen Politik weniger um die Integration von Einwanderern und Flüchtlingen ging als vielmehr um die Zementierung von Ausgrenzung und um erzwungene Anpassung. Auch die mit dem Nationalen Integrationsplan eingeleitete vorgebliche „Neuorientierung“ der Migrationspolitik richtet sich in erster Linie an die Zuwanderer-Bevölkerung – nicht an Flüchtlinge.Die große Koalition agierte widersprüchlich, indem sie einerseits für eine „nachhaltige Integrationspolitik“ warb, andererseits aber vielen Flüchtlingen kein ein sicheres Aufenthaltsrecht zugestand. Die Kluft zwischen Recht und Realität zeigte sich einmal mehr im Umgang mit Kinderflüchtlingen: Einen Tag nach dem zweiten Integrationsgipfel gab die Bundesregierung die Antwort auf die große Anfrage der Grünen zur Rücknahme der Vorbehaltserklärung bekannt. Eine Rücknahme sei migrationspolitisch bedenklich, „da sie zu einem Anstieg der Einreise unbegleiteter minderjähriger Ausländer in das Bundesgebiet führen“ könne.Nach wie vor besteht eine Kluft zwischen der offiziellen Integrationsrhetorik und praktischer, nachhaltiger Integrationspolitik. Am schärfsten tritt dieser Widerspruch beim Anspruch der Kinderfreundlichkeit dieser Gesellschaft zu Tage. Integration und ein Leben von Kindern „unter Vorbehalt“ – das geht nicht zusammen. Denn Integration kann nur ohne Diskriminierung gelingen und setzt integrationsfreundliche Gesetze voraus, die Menschen als ihre Rechte auch in Anspruch nehmen können. Integration funktioniert um so besser, je weniger die Menschen in einer Gesellschaft überhaupt institutionell und individuell diskriminiert werden können. Und: Integration ist keine Einbahnstraße, sondern ein zweiseitiger Prozess. Wer anerkennt, dass wir ein Einwanderungsland sind, muss auch den nächsten Schritt tun und selbst bereit zu Veränderungen sein.Die neue, schwarz-gelbe Koalition hat ihre Glaubwürdigkeit nun selbst auf den Prüfstand gehoben, indem sie in ihrem Koalitionsvertrag formulierte: „Wir wollen die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen.“ Mit dieser Absichtserklärung hat sich die CDU/CSU als letzte der im Bundestag vertretenen Parteien offiziell zur Rücknahme der Ratifikationserklärung bekannt. Vielleicht musste es dieselbe – schwarz-gelbe – Koalition sein, die 1992 die Vorbehaltserklärung formulierte und nun mit diesem Signal deutlich macht, ihre Politik des Kinder- und Flüchtlingsschutzes „neu orientieren zu wollen und die Gesellschaft mit den Realitäten zu versöhnen“ (Laschet).Es wäre in der Tat ein Zeichen politischer Reife, wenn Politik und Zivilgesellschaft die in der Kontroverse zwischen „Kindeswohl“ und vorgeblicher Staatsraison entstandenen Denk- und Handlungsbarrieren nach 20 Jahren endlich auflösen könnten. Die rechtsverbindliche Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur Kinderrechtskonvention und die volle Umsetzung ihrer Bestimmungen für Flüchtlingskinder stünden dann für das gute Ende einer schier unendlichen Geschichte politischen Versagens.