Kehrt der Keynesianismus zurück? So ist gefragt worden, weil der Staat mit gigantischen Summen öffentlichen Geldes in die Wirtschaftskrise interveniert. Doch was hat es mit Keynesianismus zu tun, wenn marode Unternehmen oder Banken gestützt werden oder wenn der Staat sich verschuldet, um Steuersenkungen zu finanzieren? Das sei „deficit spending“ in der Krise, wird geantwortet; das jetzt ausgegebene Geld werde in der Hochkonjunktur zurückfließen. In der Tat ist es diese Formel, die im allgemeinen Bewusstsein als „Keynesianismus“ figuriert. Zwar stammt sie von einem Keynesianer, doch Keynes selbst hat sich von ihr distanziert. Der Staat müsse Investitionsprogramme auflegen, war seine Konjunktur und Krise übergreifende Forderung. Mit
Politik : Wie sich der Neoliberalismus doch noch durchsetzt
Der Streit der Koalition verschleiert, wo Schwarz-Gelb an einem Strang zieht: bei der Ökonomisierung des Staatsapparats
Von
Michael Jäger
it ihnen werden real Arbeitsplätze geschaffen, die Binnenkaufkraft nimmt zu und es entsteht ein Schneeballeffekt.Dergleichen wird in keiner Weise versucht. Dabei wäre es heute ganz anders sinnvoll, als Keynes sich träumen ließ. Seine Diagnose war, dass es dem Kapital immer schwerer fallen müsse, überhaupt noch profitable, gar sinnvolle Investitionsziele zu entdecken; wenn hier der Staat einspringe, um nur Löcher ausbuddeln und wieder zuschütten zu lassen, schaffe das schon Arbeitsplätze, bemerkte er sarkastisch, und darauf allein komme es an in dieser verrückten, dem Wachstumszwang unterworfenen Wirtschaftsweise. Heute liegen sinnvolle Ziele jedoch auf der Hand. Ein ökologischer Umbau der Gesellschaft könnte fast Ausmaße haben, wie man sie aus „Rekonstruktionsperioden“ nach Kriegen kennt. Doch es werden ganz andere Weichen gestellt.Während sich manche noch wundern, dass die Herrschaft neoliberaler Politiker andauert, obwohl die Krise ihre Doktrin widerlegt und ihre Hegemonie gebrochen habe, weisen andere schon darauf hin, dass die neoliberale Strategie fast unverändert fortgesetzt wird. Und manche entdecken gar, dass wir erst einer „Durchsetzungskrise“ des Neoliberalismus beiwohnen. In jeder Sichtweise steckt Wahres, zusammen ergeben sie ein Bild. Material wurde jüngst in der Zeitschrift Widerspruch zusammengetragen, auf drei Aufsätze soll hier unausdrücklich Bezug genommen werden (Hans-Jürgen Bieling, Jens Wissel und Ulrich Brand in: Staat und Krise. Widerspruch 57, Zürich 2. Halbj. 2009). Zunächst: Dass die Neoliberalen wirklich noch herrschen, ist unübersehbar. Steuersenkungen, das alte Credo, sind auch heute das Einzige, was ihnen einfällt.Business as usualDer Glaube, man brauche nur Unternehmern mehr Geld zur Verfügung zu stellen, dann würden sie schon zu investieren beginnen, ist genau das, was Keynes wissenschaftlich zerpflückt. Wie er zeigt, entspringt dieser Glaube einem unterkomplexen Maschinenverständnis der Ökonomie, wo man meint, „gesparte“ Gelder seien immer schon der Gegenwert investierter Gelder – „Investieren = Sparen“ –, das heißt wenn Gelder nur überhaupt vorhanden seien, würden sie quasi automatisch reinvestiert. Dies stimmt laut Keynes nicht mit den Tatsachen überein: Vielmehr warten Unternehmer Situationen ab, von denen sie sich hinreichend viel Profit versprechen. Das Geld, weit entfernt, sie durch seinen Glanz in die Investition zu locken, ist gerade das Instrument ihres Abwartens. Hat es doch die wundersame Eigenschaft, auch in Zukunft ausgegeben werden zu können. In der Zeit des Wartens kann es immerhin auf Finanzmärkten rotieren. Der Ausdruck „Kasinokapitalismus“ stammt von Keynes.Man glaubt es kaum: Während diese Zusammenhänge schon 1936 aufgedeckt wurden, wagt man es noch heute, uns auf der Basis des Märchens „Investieren = Sparen“ für eine Politik bedingungsloser Steuergeschenke in Mithaftung zu nehmen. Und das, obwohl der bisherige Krisenverkauf Keynes in allen Punkten Recht gibt – obwohl zum Beispiel die Kreditklemme das Abwarten illustriert. Doch wer meint, unsere Politiker seien wohl zu dumm, die richtige Wissenschaft zu begreifen, dürfte sich auf dem Holzweg befinden. Nein, sie machen Interessenpolitik. Sie gehen mit der vorhandenen Unternehmerkultur durch dick und dünn. Man muss gar nicht annehmen, sie würden „bestochen“, obwohl es schon wirklich neidisch macht, von Westerwelles Honorarsummen zu hören. Aber wenn sie nur als Besserverdienende hoffen, dass die Wirtschaft as usual weiterläuft, und über den morgigen Tag nicht hinaus denken, genügt das schon.Sie setzen den Neoliberalismus in zwei Varianten fort. Die Formulierung, der Staat müsse auch „Katastrophenschutz“ übernehmen, stammt nicht zufällig vom CDU-Politiker Roland Koch. Das ist der Unionsdiskurs: Weiter so mit wenigen Anpassungen. Dieser Diskurs ist auf den Staat zentriert. Hier wird ein Spätabkömmling des „schlanken Staates“ in der Form eines Staatskörpers, der nur in der Krise Gewicht zulegt, leicht modifiziert aufrechterhalten. Der Bundeswehreinsatz im Innern ist gleichsam das metaphorische Vorbild dieses ökonomischen „Ausnahmezustands“, wie er auch genannt wird.Regiment der SachzwängeFür die andere Variante, dass wir die „Durchsetzungskrise“ des Neoliberalismus erleben, scheint in Deutschland nur die kleine FDP zu stehen. Originalton Westerwelle: „Wir müssen den Problemdruck der Krise nutzen, um die Chancen der Krise zu ergreifen und die strukturellen Umbauten zu erledigen, die ohnehin seit vielen Jahren überfällig sind.“ Wie kommt es, dass er so viel Wirkung entfalten kann? Die Sozialstaatsdebatte, die er anzettelt, ist wohlkalkuliert. Zunächst meint man, er verrenne sich, weil ihm vom allen anderen Parteien Kritik entgegenschlägt. Diese Kritik bedeutet zweifellos, dass die FDP sich in der Sicht einer Bevölkerungsmehrheit unmöglich macht. Doch das kann Westerwelle egal sein, da er von vornherein nur auf die Minderheit derer zielt, die aus der Krise als Gewinner hervorgehen können, und sie zur Rücksichtslosigkeit anstachelt. Wenn sich diese Minderheit auf ihr nacktes Privatinteresse reduzieren, herunterbringen, erniedrigen lässt und geschlossen FDP wählt, hat die Partei ihren Stimmenanteil mehr als verdoppelt. Und damit hätte der Neoliberalismus einen ganz anderen Hebel in der Hand als heute.Man muss auch sehen, wie beide Versionen ineinander greifen. Sie tun es schon allein wahltaktisch, denn je mehr Union und FDP ihren Gegensatz hervorkehren, sei er wirklich oder scheinbar, auf desto mehr Stimmenzugewinn an gegenüberliegenden Grenzen ihrer Formation dürfen sie hoffen. Ihr Zusammensein hat aber auch einen objektiven Fokus, der schon vor Jahrzehnten vom marxistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas hervorgehoben wurde: Was sich zunehmend und in der Krise mit qualitativem Sprung durchsetzt, ist eine Veränderung des Staates, in der die ökonomischen Staatsapparate bedeutsamer als die ideologischen werden. So finden sich die Parlamente in der Krise vor vollendete „Sachzwang“-Tatsachen gestellt, die natürlich nur im Kreis ökonomischer Entscheidungsträger ermittelt werden konnten. Daran arbeiten Union und FDP gemeinsam.Daran hat aber auch die SPD mitgearbeitet, in der eben erst beendeten großen Koalition. Dies führt zur Frage, was gegen den neoliberale Durchbruch denn getan werden kann. Wird eine oppositionelle SPD zur Verbündeten? Es ist nicht abzusehen. Mit dem Konzept des „aktivierenden Staates“ hatte sie quasi ihren Beitritt zum Neoliberalismus erklärt. Es war der klassisch sozialdemokratische Gestus, die Politik des Gegners hinzunehmen und ihr nur ein kompensierendes „Ja, aber auch das“ hinzuzufügen: schlanker Staat ja, aber er soll die Erwerbslosen „aktivieren“ – und nicht etwa mit Arbeitslosengeld in bisheriger Höhe auffangen –, damit auch sie noch in der Schlankheitskur vorkommen. Hat die SPD damit gebrochen? Wo ist ihr ebenso allgemein formuliertes neues Konzept? Man wartet. Inzwischen nähern sich die Grünen dem ökologischen Keynesianismus, doch über ihre Machtpolitik schüttelt man wie immer den Kopf. Ausgerechnet heute, wo die FDP mit der Union im Schlepptau den neoliberalen Durchbruch inszeniert, inszenieren sie ihren eigenen Durchbruch zur sachorientierten Politik jenseits der Lager. Ein so falscher Zeitpunkt, hätte sich besser nicht finden lassen. Und die Linkspartei? Hat eine Führungskrise.