Schwarz-Gelb hat versagt. Aber wo ist die Alternative? Tobias Dürr plädiert für eine Mehrparteien-Koalition des Fortschritts. Aber zunächst müssen die Scheuklappen fallen
Gesellschaften politisch zu führen ist nirgendwo einfach. Das gilt erst recht in Zeiten der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Transformation, des kontinuierlichen Umbruchs fast aller Lebensbereiche, der Europäisierung und der Globalisierung, des Wandels von Demografie und Weltklima. Wie spektakulär eine Regierung daran scheitern kann, den Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, das demonstriert seit dem vergangenen Herbst fast tagtäglich auf geradezu atemberaubende Weise die neue schwarz-gelbe Bundesregierung.
Die „bürgerliche“ beziehungsweise „christlich-liberale“ Koalition (so deren ziemlich schrullige Selbstcharakterisierungen) war seit Jahren das erklärte Wunschbündnis von CDU/CU und
DU/CU und FDP; am 27. September 2009 ging das lang gehegte Sehnen endlich in Erfüllung.Seitdem wird immer klarer, dass sich hier - mitten in der größten Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise seit vielen Jahrzehnten - drei Parteien zusammengetan haben, die untereinander und sogar jeweils für sich offensichtlich nicht einmal ansatzweise Einigkeit darüber herstellen können, mit welchen zentralen Herausforderungen sie es eigentlich zu tun haben, welche Probleme heute in Deutschland und Europa vordringlich gelöst werden müssen und, ganz grundlegend, an welchem Leitbild für unsere Gesellschaft sie sich eigentlich orientieren wollen. Nichts wird geklärt, nichts funktioniert, nichts kommt voran; dafür agitieren alle wild durch- und gegeneinander. Und die von ihren eigenen Leuten als „Mutti“ lächerlich gemachte Kanzlerin sieht dem unwürdigen Treiben tatenlos zu.Noch etwas ist deshalb am Beispiel dieser „bürgerlichen“ Bundesregierung nachgerade lehrbuchmäßig zu besichtigen: Wie orientierungslos gewordene Politiker aus Überforderung in Panik geraten; wie daraufhin sogar erklärte „Wunschpartner“ beginnen, blindlings aufeinander einzuteufeln, statt in gemeinsamer Wahrnehmung ihrer Aufgaben kühl die Lage zu analysieren und nach produktiven Lösungen zu suchen; wie sie sich im Einsatz für Abwegiges (Beispiel Mövenpick-Steuer) verlieren oder ihr Verhältnis zueinander im ständigen Stellungskrieg um Nebensächliches (Beispiel Erika Steinbach) immer weiter zerrütten. Kurzum, weil der neuen Regierungsmehrheit von Anfang an eine übergreifende Idee für Deutschland fehlte, scheint sie mittlerweile in einem Strudel der destruktiven Autoaggression zu versinken.Wie Regierungen den Respekt der Bürger verspielenNaturgemäß haben solche Prozesse die Tendenz, sich eigendynamisch immer weiter zu beschleunigen und zu radikalisieren. Man darf angesichts der fortgeschrittenen Selbstbeschädigung der Bundesregierung schon sehr gespannt sein, ob es der bislang erschreckend führungsschwachen Kanzlerin doch noch irgendwie gelingen wird, ihre Koalition auf einen gemeinsamen Kurs zu festzulegen. Große Zweifel daran sind am Platz. Da sich Angela Merkel bekanntermaßen jenseits des Machterhalts keine wie auch immer gearteten politischen Ziele steckt, kann sie weder Orientierung stiften noch glaubwürdig Führung ausüben; aber solange sie in der deutschen - und übrigens gerade auch europäischen - Politik keine Führung ausübt, wird sie bleiben, was sie (in der pointieren Formulierung Sigmar Gabriels) ist: die „Geschäftsführerin einer Nichtregierungsorganisation“. Solche Regierungen und ihre Frontleute büßen nicht nur die Zustimmung der Bürger ein, sondern schließlich sogar deren Respekt. Der Rest ergibt sich.In Schwierigkeiten können Regierende aber auch aus anderen, ehrenvolleren Gründen geraten. Barack Obama hat es gegenwärtig ebenfalls nicht leicht, dies aber anders als Angela Merkel keineswegs aufgrund von Unentschlossenheit, Phlegma oder Ideenlosigkeit. Im Gegenteil: Der Präsident der Vereinigten Staaten steckt exakt deshalb in großen politischen Schwierigkeiten, weil er ernsthaft etwas vorhat, weil es ihm um wirklichen Fortschritt geht, weil er ein progressiver Politiker ist, der in seinem Land bessere Lebenschancen für mehr Menschen durchsetzen will, beispielsweise indem er beharrlich für ein Gesundheitssystem kämpft, in dem zukünftig nicht mehr wie bisher viele Millionen Amerikaner ohne Versicherungsschutz leben sollen. Im Wahlkampf 2008 hat Barack Obama immer wieder einen ganz zentralen Satz ausgesprochen: „The world as it is, is not the world as it should be.“ Die Welt, wie sie ist, ist nicht so gut, dass sie keiner Verbesserung mehr bedürfte: Diese Feststellung und Grundhaltung steht am Anfang jedes progressiven Nachdenkens und jeder Politik, die auf Fortschritt und Emanzipation zielt. Sie enthält das Bekenntnis zu einem progressiven Politikverständnis, zur schrittweisen, aber fortwährenden Verbesserung der Verhältnisse als Prinzip.Es ist richtig: Obamas Schlüsselsatz enthält, für sich genommen, noch keine inhaltliche Festlegung. Was denn genau fehlt, woran es denn hapert und mangelt, wohin es denn gehen soll und überhaupt: wie die Welt sein sollte - darüber kann man schließlich ausgesprochen unterschiedlicher Auffassung sein. Aber in diesem Satz kommt der Urimpuls jeder Fortschrittspolitik zum Ausdruck: Progressive geben sich nicht zufrieden damit, wie es nun einmal ist! Sie blicken nach vorn, was zugleich heißt: Sie wünschen sich nicht irgendeine nostalgisch verklärte „gute alte Zeit“ zurück! Das unterscheidet sie von rechten wie linken Konservativen. Zugleich allerdings sehnen Progressive aber auch keinen vermeintlichen Endzustand der Geschichte herbei, den sie mit irgendeinem „geschlossenen Politikkonzept“ ein für allemal durchzusetzen hoffen. Die Wahnidee von plötzlichen Systemwechseln, von irgendwelchen „Großen Sprüngen nach vorn“ über die Köpfe der Menschen hinweg, ist Progressiven fremd. Das wiederum unterscheidet sie von revolutionären Spinnern aller Art.Ohne Aufbruch und Erneuerung wird es nicht gehenStattdessen machen sich Progressive im Hier und Jetzt ganz praktisch und Schritt für Schritt an die Arbeit. Dabei nehmen sie die schwierige Wirklichkeit in möglichst allen ihren Facetten zur Kenntnis - um sie zu durch zupackende Arbeit zu verändern, um sie besser machen, als sie jetzt ist. Progressiven geht es um Fortschritt als Entwicklungsprozess, um den sozialen Aufstieg und die Partizipation von Menschen an der Gesellschaft. Sicherlich geht es ihnen auch um Wachstum - aber nicht um Wachstum als Selbstzweck, sondern zu allererst um ein Wachstum der Lebensqualität für alle. Ob wir die Probleme dieser Gesellschaft und der Welt im 21. Jahrhundert werden lösen können, ist heute alles andere als gewiss; Gründe zu beträchtlicher Skepsis gibt es zur Genüge. Eines aber steht jetzt schon fest: Ohne eine entschieden auf Veränderung, Umbau und Fortschritt orientierte Politik werden wir den Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte nie und nimmer gerecht werden.Dabei geht es - um Missverständnissen vorzubeugen - ausdrücklich nicht darum, einen bloß technokratischen oder sogar autoritären Fortschrittsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Versenkung zu holen. Manche halten den Begriff des Fortschritts nach den zivilisatorischen und ökologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts insgesamt für verbrannt. Und tatsächlich ist der Einwand berechtigt: Es war ja zweifellos nicht zuletzt ein unterkomplexer und allzu vulgärer Fortschrittsbegriff, der uns in die vielfältigen Miseren der Gegenwart erst hineingetrieben hat - Stichwort Umwelt, Stichwort Klima, Stichwort Energie; auch religiöser Fundamentalismus und Terrorismus lassen sich mit guten Gründen als Reaktionen auf unterkomplexe Fortschrittskonzepte verstehen. „The world as it is, is not the world as it should be“ - vieles von dem, was uns heute zu schaffen macht, ist nicht zuletzt die Folge allzu unreflektierter Fortschrittsversprechen aus dem vergangenen Jahrhundert.Etwas Demut steht Progressiven also ganz gut zu Gesicht. Sollten wir aber deshalb der Idee und Praxis des Fortschritts ganz und gar abschwören und uns einem mutlosen muddling through nach dem Muster Merkel verschreiben? Auf keinen Fall! Wenn überhaupt, dann werden wir die eingetretenen und bevorstehenden Miseren des 21. Jahrhunderts nur mit dem klaren Bekenntnis zu reflektiertem Fortschritt und reflektierter Erneuerung bewältigen können. Bildung, Sozialstaat, innovative Wirtschaft, Demografie, Integration, Klima - überall kommt es heute darauf an, qualitativen Fortschritt zu organisieren, einen Fortschritt, der mehr und mehr Menschen zu besseren Lebenschancen verhilft (was keineswegs mit mehr materiellem Wohlstand gleichzusetzen ist); einen Fortschritt, der dazu beiträgt, dass möglichst alle Menschen ihre Potenziale in vollem Umfang ausschöpfen können, dass sie also die reale Chance besitzen, ihr eigenes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Es muss Progressiven, anders gesagt, gerade auch darum gehen, Freiheit und Gleichheit wieder zueinander in Bezug zu setzen und damit - zum Nutzen von Menschen - egalitäre und liberale Auffassungen miteinander zu verbinden.Dringend gebraucht werden neue progressive BündnisseDass sich die neue schwarz-gelbe Regierungskoalition nicht als Kraft des Fortschritts erweisen würde, war so zu erwarten. Doch angesichts des bestürzenden Ausmaßes der schwarz-gelben Einfallslosigkeit, Handlungsschwäche und Autoaggression steht jetzt, viel eher als allseits angenommen, die Frage im Raum, wie denn - sowohl inhaltlich als auch personell - in Deutschland die progressive Alternative zu Merkels trostloser Krisenverwaltung aussehen könnte. Mit ihren kümmerlichen 23 Prozent vom 27. September 2009 (und nicht viel besseren Umfragezahlen im Frühjahr 2010) tut besonders die SPD gut daran, sich nicht kurzfristigen Machteroberungsphantasien hinzugeben. Dieses Brett ist zu dick für eine Sozialdemokratie, die ihre inneren Widersprüche noch längst nicht geklärt hat und mit mindestens einem Bein noch immer fest im vorigen Jahrhundert steht.Notwendig sind deshalb neue Bündnisse progressiver Akteure über Partei-, Organisations- und sogar Koalitionsgrenzen hinweg. Spannend (und so nicht unbedingt zu erwarten gewesen) ist daher, dass derzeit quer zu den bestehenden Parteien so etwas wie die Koalition eines neuen progressiven Denkens entsteht. Zumindest zeichnet sich diese neue informelle Koalition ab. Zu ihr zählen Wissenschaftler und Publizisten, viele Sozialdemokraten und Grüne, auch reformorientierte Mitglieder der vormaligen PDS in Ostdeutschland – und hinter Westerwelles Rücken womöglich sogar eine Handvoll frustrierter Freidemokraten, die die große progressiv-liberale Tradition ihrer Partei noch nicht völlig vergessen haben. Es war schließlich der Liberale Ralf Dahrendorf, der geschrieben hat: „Freiheit darf kein Privileg werden, und das heißt, dass es ein Gebot der Politik der Freiheit ist, mehr Menschen, prinzipiell allen Menschen die Anrechte und das Angebot zu verschaffen, die wir selber schon genießen.“ Genau darum geht es in der Tat! Auf dieses zentrale Leitmotiv moderner Fortschrittspolitik können sich Progressive verschiedenster Herkunft deshalb ohne weiteres verständigen.Progressive aller Parteien, verbündet euch!Unter den beschriebenen Umständen muss Progressive heute eine Frage, eine Sorge und eine Hoffnung beschäftigen. Die progressive Frage muss lauten: Kann es in Deutschland gelingen, schon in absehbarer Zeit eine Koalition derjenigen Kräfte zu organisieren und regierungsfähig zu machen, die für sozialen, für wirtschaftlichen und ökologischen Fortschritt stehen? Die progressive Sorge muss sein: Das Vorhaben könnte schiefgehen. Es könnte nämlich dann scheitern, wenn sich die fortschrittsfreudigen Akteure jeweils in ihren eigenen Parteien und Organisationen nicht gegen die verbreiteten Tendenzen eines rückwärts gewandten linken Konservatismus durchsetzen können: Left is the new conservatism. Aber auch die gedankenarmen Durchwurstler, die Politik mit der bloßen Verwaltung und Verteidigung des jeweils erreichten Status quo verwechseln, sind die natürlichen Feinde allen Fortschritts. Kurzum, der progressive Aufbruch wird dann ausfallen, wenn eine mögliche Fortschrittsmehrheit in Gesellschaft und Parteien bloß latent bleibt, statt politisch zueinander zu finden.Andererseits gibt es eben auch eine progressive Hoffnung. Sie setzt darauf, dass sich am Fortschritt interessierte Menschen verschiedenster Herkunft über die oftmals hinderlichen Begrenzungen hinwegsetzen, die ihre Parteien und Koalitionen heute noch voneinander trennen. Den Fortschritt als Idee und Prinzip hat im 21. Jahrhundert gerade nicht eine einzige politische Partei für sich gepachtet. Umso wichtiger ist es, dass sich Progressive unterschiedlicher Herkunft und Verankerung konstruktiv „zusammendiskutieren“. Die Konstellation dafür ist nicht so ungünstig, denn einstweilen amtiert ja Angela Merkels schwarz-gelbe NGO, und es könnte sein, dass diese Regierung noch einige weitere Jahre lang vor sich hin werkeln wird, wie sie begonnen hat. Das wäre schlimm genug für Land und Leute, würde Progressiven aber Zeit zur ideenpolitischen Vorbereitung neuer Konstellationen verschaffen: Zeit zur Annäherung, Zeit für die produktive, konstruktive Verständigung darüber, worin die Schnittmengen unterschiedlicher Fortschrittsvorstellungen in Deutschland liegen und wie sich diese Schnittmengen noch ausweiten lassen. Notwendig ist dies allemal, denn die Lage ist ernst genug. Das komplette Versagen der schwarz-gelben Bundesregierung macht deutlich, wie dringend wir in Deutschland eine neue gesellschaftliche und schließlich auch politische Koalition des sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Fortschritts brauchen. Aber diese politische Koalition muss, wenn sie denn irgendwann zustande kommt, eine Koalition sein, die sich - bei aller ebenso unvermeidlichen wie notwendigen Pluralität - im Kern darüber einig ist, wie sie „Fortschritt“ konkret ausbuchstabieren will. Gering ist diese Verantwortung nicht, lohnend aber allemal.Dieser Text wurde vom Progressiven Zentrum, dem Kooperationspartner des Freitag beim Projekt Linke Mitte, bereitgestellt und ist auch auf der Webseite des Zentrums abzurufen.