Zum Frontstaat ernannt

Pakistan Der Nachbarstaat Afghanistans ist tief in den Anti-Terror-Feldzug verstrickt. Von den zerstörerischen Gefahren, die dem Land drohen, kann es sich nur selbst befreien

Die Zivilregierung in Islamabad gilt als schwach und wenig effizient. Die religiöse und sektiererische Polarisierung schreitet in einem verstörenden Maße voran. Radikalisierte Militante nehmen säkulare und nichtmuslimische Führer ins Visier. Zudem belastet die Weltfinanzkrise das Land, was zu einer Inflation um die 13 Prozent geführt hat. Es fällt regelmäßig der Strom aus, was nicht nur die Wirtschaftsproduktion beeinträchtigt, sondern auch die Geduld des Normalbürgers strapaziert. Glücklicherweise wird glühende Hitze gerade von heftigem Monsunregen gemildert, so dass den Menschen etwas Erleichterung zuteil wird. Regen als Trost und Silberstreif am Horizont?

Vor zehn Jahren regierte in Pakistan General Musharrraf, dessen Popularitätswerte jähem Fall preisgegeben waren. Dann kamen die Anschläge auf New York und Washington, und alles wurde anders. Über Nacht avancierte Musharraf zum geschätzten Partner des von Neocons überschwemmten Washington. George W. Bushs Cowboy-Gehabe fand seine Entsprechung in Musharrafs generalstabsmäßiger Chuzpe. Gemeinsam wollten sie den islamistischen Terror und al-Qaida bekämpfen, die in Afghanistan wie in den Grenzregionen Pakistans Wurzeln geschlagen hatten. Genau so hatten Jahre zuvor Präsident Reagan und General Zia, Pakistans damaliger Staatschef, zueinander gefunden, um eben jene Islamisten nach Afghanistan zu schleusen, wo sie die Sowjets vertreiben sollten.

Washington stellte Musharraf für den Kampf gegen den neuen Feind drei Milliarden Dollar pro Jahr in Aussicht – der General versprach Entgegenkommen. Die prominenteste Auslieferung an die USA war die von Khalid Scheich Mohammed, eines der 9/11-Drahtzieher. Danach folgte nicht mehr viel. Die US-Armee hatte in Afghanistan keinen nachhaltigen Erfolg gegen die Taliban, die sich dort erholten, wo sie entlang der langen, durchlässigen Grenze zu Pakistan sicheren Unterschlupf fanden.

Eine riesige Enttäuschung

Das pakistanische Sicherheitsestablishment hatte derweil beschlossen, nicht von der Strategie abzulassen, in Afghanistan „strategische Tiefe“ oder einen kontrollierenden Einfluss zu gewinnen. Hierzu wollte man sich der Taliban bedienen – der einzigen Macht, die dort nach dem Abzug der Sowjets 1989 wenigstens annähernd Ordnung geschaffen hatte, wenn auch mit ­brutalen Mitteln. Man wusste, bei diesen Gotteskriegern handelte es sich um sunnitische Paschtunen, die auch in Pakistans nordwestlicher Grenzprovinz in der Mehrheit sind. Es war damit zu rechnen, dass dieses Volk eher mit Pakistan sympathisieren würde als mit den Überbleibseln der Nordallianz, aus denen sich Ende 2001 in Kabul die Karzai-Regierung rekrutierte.

Bald jedoch sollte sich unter den neuen Umständen das Musharraf-Regime überlebt haben. Mit der Rückkehr der freiwillig ins Exil abgewanderten Ex-Premierministerin Benazir Bhutto im Oktober 2007 und des ehemaligen Regierungschefs Nawaz Sharif willigte Musharaff in seinen Rücktritt als Armeechef ein und billige widerwillig Parlamentswahlen, die für Januar 2008 angesetzt wurden. Unmittelbar vor dem Wahltag und kurz nachdem Präsident Musharaff in einer Rede geschworen hatte, gegen Extremismus und Talibanisierung vorzugehen, wurde Bhutto Opfer eines Mordanschlags. Viele sahen darin eine sorgsam geplante (bis heute nicht aufgedeckte) Verschwörung.

Bei dem wegen des Attentats verschobenen Votum erhielt Bhuttos Pakistanische Volkspartei (PPP) die Mehrheit und übernahm die Führung einer wackligen Koalitionsregierung. Musharraf ging ins Londoner Exil, Bhuttos Witwer Asif Ali Zardari wurde Präsident, während die Zivilregierung sofort versuchte, das Militär und den Geheimdienst Inter-Services Inteligence (ISI) unter ihre Kontrolle zu bringen, womit sie erwartungsgemäß scheiterte.

Inzwischen hatte in den USA Barack Obama, der mit dem Versprechen Wahlkampf gemacht hatte, die blutigen Kriege im Irak wie in Afghanistan zu beenden, die Präsidentschaft erobert. Durch die neue Administration dazu aufgefordert, verabschiedete der US-Kongress das Kerry-Lugar-Gesetz, demzufolge jährlich zwei Milliarden Dollar für Pakistan ausgegeben werden sollten, um so die Zivilregierung zu stützen. Doch fühlte sich das pakistanische Sicherheitsestablishment durch diese Investition der USA in die zivile Infrastruktur des Landes bedroht und protestierte heftig gegen die pro-demokratischen Bedingungen, die das Kerry-Lugar-Gesetz enthielt.

Trotz seines Widerstands gegen dieses Dekret erhielt das pakistanische Militär in Form so genannter Coalition Support Funds weiter finanzielle Beihilfen für Operationen gegen Militante in den Stammesgebieten. Doch war das Kerry-Lugar-Gesetz letzten Endes eine riesige Enttäuschung. Tatsächlich sind seit 2008 weniger als eine Milliarde Dollar an Hilfen aus den USA geflossen. Offenbar war die Furcht der Amerikaner riesengroß, das Geld könne von einer korrupten pakistanischen Staatsmaschinerie verschluckt werden.

Das hinderte die Obama-Regierung keineswegs, das pakistanische Militär zu drängen, härter gegen die Militanten vorzugehen. Vor allem sollten die Pakistani das Haqqani-Netzwerk auflösen, eine in den Stammesgebieten Nordwaziristans ansässige Taliban-Gruppe, die immer wieder zu Angriffen auf ISAF-Truppen in Afghanistan ausholte. Doch zeigte die pakistanische Armee wenig Neigung, sich diesen Gegnervorzunehmen, so dass die US-Armee auf unbemannte Drohnen vertraute. Das wiederum schürte Konflikte zwischen dem Sicherheitsestablishment in Islamabad und dem in Washington. Aus amerikanischer Sicht stellen die Drohnen, da Pakistan den Einsatz von US-Bodentruppen nicht erlaubte, eine zuverlässige Methode dar, um Guerilla-Einheiten auszuschalten. Pakistan fehlte es an Ressourcen, vor allem aber dem Willen, sich dieser Praxis zu bedienen. Schließlich konnten derartige Attacken die Autorität der Regierung untergraben – sie führten zum Tod unbeteiligter Zivilisten und verletzten territoriale Souveränität.

Affäre Raymond Davies

In diesem Jahr war das Verhältnis zu den USA einem weiteren Belastungstest ausgesetzt, als in Lahore der CIA-Spion Raymond Davies am helllichten Tag zwei ihm folgende Pakistani erschoss. Islamabad warf der US-Regierung umgehend vor, heimlich ein eigenes Spionagenetz zu unterhalten.

Auf den Tiefpunkt sanken die Beziehungen in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai, als zwei Tarnkappen-Hubschrauber des US-Militärs in die Garnisons Abbottabad einflogen, und ein Trupp von Spezialsoldaten Osama bin Laden zur Strecke brachte. Die pakistanische Armee hatte das Eindringen der Amerikaner nicht bemerkt und empfand die Operation als Demütigung – eigene Verwundbarkeit wurde durch überlegene Technik offenbart. Den indirekten Vorwurf, Osama bin Laden wissentlich Unterschlupf gewährt zu haben, wies man zurück. Freilich musste eingeräumt werden: Wenn der Al-Qaida-Chef nur wenige Kilometer von der ersten Militärakademie des Landes komfortabel gelebt habe, sei ein massives Versagen der Geheimdienste kaum zu bestreiten.

Beinahe ein Jahrzehnt nach der erfolgreichen Al-Qaida-Attacke auf New York hatte es das Team Obama darauf ankommen lassen und Osama bin Laden bei einem gewagten nächtlichen Einsatz ausgeschaltet. Auch wenn sich andere Al-Qaida-Leute weiter auf freiem Fuß befinden, ist in der Wahrnehmung vieler mit Abbottabad ein gewisser Abschluss des Krieges gegen den Terror erreicht.

Wo ist der Silberstreif?

Was wird nun aus Pakistan? Die Hoffnung liegt in den Händen der Pakistani, sie ergibt sich (mit Abstrichen) auch aus gewissen Fortschritten der Regierung und der Sicherheitsdienste und hat mit ökonomischer Entspannung zu tun. Trotz der innen- und geopolitischen Herausforderungen hat Pakistan 2010 bei seinen Exporten die historische Höchstmarke von 24 Milliarden Dollar erreicht. Die Auslandsreserven stiegen im August 2011 ebenfalls auf zuvor nie erreichte 18,3 Milliarden Dollar, das Handelsdefizit ging im Vergleich zum Vorjahr leicht zurück. Und der Agrarsektor, das Hauptstandbein der nationalen Ökonomie, profitiert vom Anstieg der Rohstoffpreise. Nichtsdestotrotz bestehen weiter enorme Herausforderungen, da die Zivilregierung wegen der höchst unzureichenden Staatseinnahmen von Krediten aus dem In- und Ausland abhängig ist. Sie wird – obschon geschwächt und unfähig, ihre Vision eines prosperierenden Pakistan umzusetzen – dennoch die erste sein, die (vermutlich) eine fünfjährige Legislaturperiode übersteht. In einem Land, dessen Militärestablishment immer wieder eifrig in den demokratischen Prozess eingreift, ist allein das schon ein Sieg.

Der Sicherheitsapparat sucht nach engeren Bindungen zur chinesischen Regierung, um mehr Distanz gegenüber Washington zu haben. Doch die Pekinger Administration fürchtet das Einsickern des islamischen Extremismus in die an der Grenze zu Pakistan liegende muslimische Unruheregion Xinjiang. Für einen Hoffnungsschimmer sorgt auch der Umstand, dass Armee und Sicherheitsdienste die Zivilregierung von Premier Yousaf Raza Gilani nicht daran hindern, etwas für die Beziehungen zum Rivalen Indien zu tun.

Schließlich hat sich die pakistanische ­Gesellschaft trotz Aufsehen erregender Morde, denen Angehörige religiöser Minderheiten und säkulare Führer zum Opfer fielen, nicht von religiöser Intoleranz einschüchtern oder vereinahmen lassen, wie sie die Fanatiker propagieren.

Bislang haben die religiösen Parteien bei nationalen Wahlen nie mehr als zehn Prozent der Stimmen erhalten. Es sieht nicht danach aus, als ob sie beim nächsten, für 2013 angesetzten Urnengang beträchtlich zulegen. Trotz einer wachsenden Aggressivität, mit der innere Konflikte ausgetragen werden, wachsen auch die modernen, progressiven Teile der Gesellschaft. Sie streben nach einer dynamische Medienlandschaft, einer Zivilgesellschaft und – wie die unterdrückte Bevölkerung – nach einer lichten Zukunft. Pakistans Aussichten – wenngleich nicht überwältigend – sollten die Untergangsszenarien für einen implodierenden, „gescheiterten“ (failing) Staat ad absurdum führen.


Abid Hussain Imam
studierte an der Universität von Yale und der Columbia Law School. 2008 kehrte er zurück nach Pakistan. Derzeit ist er Assistenzprofessort an der Universität von Lahore





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt

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Übersetzung: Zilla Hofman

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