Doch keine Spielzeugstadt

Kulturhauptstadt Für die Schriftsteller Ivan Klíma und Sándor Márai war Košice in der Slowakei kein unbeschriebenes Blatt. Ein literarischer Stadtspaziergang

Hügelige Wiesen leuchten intensiv grün, Dörfer und Städtchen scheinen sich zu ducken, schmale Flüsse funkeln im Sonnenlicht. Als ein wuchtiges Hüttenwerk ins Blickfeld gerät, wirkt es beim Landeanflug wie ein Fremdkörper. Bei der anschließenden Fahrt in die Stadt sieht der Reisende Plattenbauten wie fast überall in Osteuropa seit den siebziger Jahren, dann kommt der Altstadtkern mit der gotischen Kathedrale und fein gegliederten Häusern mit Stuck und Säulen; lichte Farben herrschen vor. Überall wird für das bevorstehende Jahr restauriert und gebaut, saniert und gewerkelt: Neben Marseille wird das slowakische Košice die Kulturhauptstadt Europas 2013 sein.

Beide Städte sind die zweitgrößten ihrer Länder, beide sind EU-Grenzstädte und dadurch Übergangszonen. In Marseille spürt man zuweilen schon Afrika, in Košice das weite, byzantinisch geprägte Land im Osten. Für Sándor Márai, den bekanntesten Sohn der Region, schlummert die Stadt „zwischen den Bergen, in Watte gepackt, ihre drei Türme weisen gleichzeitig zum Himmel, die Häuser haben Elektrizität und fließend Wasser, am Bahnhof rangiert eine Lokomotive, schickt einen langgezogenen Pfiff in den Äther. Drei Berge rahmen das Städtchen ein, sie bergen ein wenig Kupfer und etwas Magnesit. Ein Fluss durcheilt die Stadt, ein flinkes Bergflüsschen... Vom Bahnhof führt eine schmächtige Trambahnlinie zum Hauptplatz hinein. Die Häuser sind schmal und kleben eng aneinander, denn die Stadt war einstmals eine Burganlage, schon seit Urzeiten leben Menschen hier“. So beschreibt der 1900 geborene Márai seine Heimatstadt, die damals Kaschau hieß, im 1930 erstmals erschienenen Roman Die jungen Rebellen, der während des Ersten Weltkrieges spielt.

Blindgänger

Die Trambahnlinie fährt heute nur noch für Touristen und an Feiertagen zum Hauptplatz, ansonsten ist dieser Platz eine Fußgängerzone, aus der Handwerkergasse ist eine für Kunstgewerbe und Souvenirs geworden. Nur noch ein Bäcker und ein Schuster arbeiten für den täglichen Bedarf. Das Zentrum erscheint noch stärker als zu Márais Kindertagen „wie eine Spielzeugstadt in einer Schachtel“.

Márai idealisierte eine großbürgerliche Welt von Besitz und Bildung und zeigte in seinen besten Werken deren Bedrohung, ja ihr Ende, in künstlerisch indirekter Art. In Die jungen Rebellen lässt sich ein Rattenfänger im Theater, wo die Hauptgestalten sich häufig trafen, einschließen – und „als er ging, lagen Hunderte toter Ratten im Zuschauerraum, auf der Bühne, in den Logen und in den Fluren“. Die Beschreibung überhöht die Realität, wird zum Symbol des Schreckens. Menschen wandeln sich, werden so, „als ob sie innerlich Flügel hätten. Es bindet sie nichts“.

Der Weltbürgerkrieg von 1914 bis 1945 verwüstete mehrfach die Slowakei, Gestalten und Gewalten kamen und gingen. Mehrmals ging die Front im Zweiten Weltkrieg über diese Gegend hinweg; die Nazis und ihre willigen Helfer ermordeten weitgehend die jüdische Bevölkerung; noch heute findet man in dünn besiedelten Waldgebieten Blindgänger.

Gerade ist in deutscher Übersetzung Stunde der Stille, Ivan Klímas erster Roman aus dem Jahre 1963, erschienen. Er basiert auf einer Artikelserie, die Klima als Journalist in der Ostslowakei schrieb. Eigentlich wollte er diese Artikel zu einem Drehbuch für einen Spielfilm verwenden. Als der Film wegen zu drastischer Szenen nicht zustande kam, beschloss Klíma, das Geschriebene zu einem Roman umzuformen. Er beschreibt die Leiden der letzten Kriegstage und die schwindenden Hoffnungen auf eine freie Gesellschaft. Die sowjetischen Befreier mutierten – wieder mit willigen Kollaborateuren – zu neuen Unterdrückern.

Die vorerst letzte neue Ordnung

Viele Motive des Romans findet man immer noch in der heutigen Slowakei. Die Amerika-Sehnsucht zum Beispiel, die sich im bizarren Andy-Warhol-Kult zeigt, schließlich stammen die Eltern des 1928 in Pittsburgh geborenen Mitbegründers der Pop-Art aus dieser Region. Die Geschichte des bitterarmen Kindes, das sich zur Pop-Ikone und zum Multimillionär entwickelte, belebt noch immer die Fantasie. Mehr Emigranten aber erging es wie denen in Ivan Klímas Buch: „Er schrieb ihr nur einen einzigen Brief, dass es in Amerika keine Arbeit gebe. Einige Wochen lang habe er am Bau geschafft, doch auch dort gebe es nun keine Arbeit mehr, und er würde gern nach Hause zurückkehren, wenn er sich die Reise leisten könnte, aber daran sei nicht zu denken.“

Hauptstoff des Romans ist jedoch, wie sich die Slowakei entwickelte, wie aus einer Gegend, in der es „nur Wälder und Hütten und Kirchen aus Holz“ gab, ein Land mit Schwerindustrie wurde. Diesen Wandel gestaltet Ivan Klíma in Szenen voller Dramatik, wie man sie hierzulande nur im Frühwerk Heiner Müllers, besonders in Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande, findet. So will ein kommunistischer Widerstandskämpfer sich für die Ermordung seiner Familie rächen. Entschlossen bedroht er den Priester, der in Todesangst alles und jeden verrät – selbst alle Beichtgeheimnisse: „Und Bajkos ältester Sohn, den du auch in eure Partei aufgenommen hast, der hat eigenhändig ein kleines Kind mit dem Köpfchen gegen einen Stein…“ Auch der Rächer verstummt, er kann seine Tat nicht ausführen, erblickt keinen Mörder mehr, sieht sich vielmehr „einem mächtigen, gesichtslosen Strom gegenüber, ausdruckslosen Augen und Händen, die willig waren zu tun, was man ihnen befahl, und Mündern, die bereitwillig die Worte, die er ihnen vorsagte, nachsprachen“. Am Ende seiner Arie des Verrats hat der Priester seinen Glauben verloren – wie der Rächer den seinen. Eine gespenstische Stille senkt sich über die Szene und nur noch beim Auseinandergehen ist das Geräusch der knarrenden Holztreppe zu hören.

Auch die neue Ordnung bringt Demütigungen, andere; wieder einmal wird den Leuten demonstriert, „dass sie machtlos waren und sich zu fügen hatten“. Aber auch die noch größtenteils bäuerlichen Leute werden bei Ivan Klima nicht heroisiert: „Christus geisterte durch diese Welt, und Grafen und alte Parolen, sie verdeckten das mit ihrem Lächeln und zustimmendem Nicken, aber wenn sie sich bedrängt fühlten, ließen sie die Hunde los… Welch eine Heuchelei. Konnte man mit solchen Leuten überhaupt etwas anfangen?“

Und wie steht es mit der vorerst letzten neuen Ordnung, der heutigen also? Zwar besitzt die Stadt mit U.S. Steel Košice noch einen Großbetrieb mit Tausenden Beschäftigten (die Angaben schwanken beträchtlich), aber bis 2015 sollen mindestens 1.655 Stellen gestrichen werden. Košice soll eine postindustrielle Stadt werden. Man hofft auf IT und Tourismus – das Übliche. Ohne eine Revolution der gesellschaftlichen Organisations- und Herrschaftsformen wird das dort wie anderswo kaum zu machen sein.

Beklemmend

Gegenüber der alten Synagoge treffe ich den Maler Viktor Šefčik. Der 1960 Geborene engagierte sich in der „samtenen Revolution“, kehrte aber der Politik bald enttäuscht den Rücken, reiste durch die Welt und fand sich erst nach einigen Jahren wieder als Künstler. Eine Gestalt für die Nachfolge Ivan Klímas. Heute gehört der Maler zu den wenigen slowakischen Künstlern, die vom Verkauf ihrer Bilder leben können. Auf etlichen sind Motive seiner Heimatstadt zu sehen, melancholische, spirituell beeinflusste Gemälde.

Viktor Šefčik engagiert sich für ein Holocaust-Museum und eine Galerie für zeitgenössische Kunst in der alten Synagoge. Beides hängt für ihn zusammen. Ohne die Ermordung der jüdischen Bevölkerung müsste man nicht über eine Neunutzung der alten Synagoge nachdenken. Und diese Nutzung müsse dem sakralen Gebäude angemessen sein. „Nachher zeige ich, was mit dem Gebäude in den letzten Jahrzehnten gemacht worden ist.“

Eine Kinderschar in lumpiger Kleidung, teilweise barfüßig, rennt vorbei, ein Junge stibitzt eine Gabel vom Nachbartisch. „Wie Kakerlaken sind die! Machen alles kaputt“, flucht Viktor Šefčik. Es ist beklemmend. Alle, aber wirklich alle, Hotelangestellte, Zufallsbekanntschaften, Macher des Kulturhauptstadtprogramms, empfinden das „Roma-Problem“ als gravierend, erzählten sogleich von Verbrechen, wo Vorurteile und Urteile schwer zu unterscheiden waren, zumal stets nicht nur gesagt wurde, man sei noch nie in Lunik 9 – einer gettoartigen Siedlung am Stadtrand – gewesen, sondern hinzufügte, man würde nie, niemals, auf keinen Fall dorthin fahren. Ich frage mein Gegenüber. Viktor Šefčik ist der erste, der dort war. Viele sind dort angesiedelt, meint er, die nicht anpassungsfähig sind. Das gilt nicht für alle Romas. Aber für zu viele. Kaum Bildung, kriminelle Strukturen, minderjährige Mütter, die erneut schwanger sind, und klebstoffschnüffelnde Kinder bilden einen Teufelskreis. Eine Lösung weiß auch Viktor Šefčik nicht.

Verfall und Grazie

Anders bei der Kulturpolitik, an der er kritisiert, dass sie einseitig auf die Förderung von jungen Talenten setzt. Der Zusammenhang von Kunstentwicklungen gehe verloren. Als wir die außen frisch verputzte und sanierte Synagoge betreten, ist die Diskrepanz groß – Schotter auf dem Fußboden, die jahrzehntelange Nutzung als Lagerhaus ist unverkennbar, beschädigt und dennoch erhaben leuchten die Ornamente. In dieses ungemein reizvolle Ambiente aus Verfall und Grazie hing und stellte Viktor Šefčik Arbeiten einer Künstlerfamilie: Werke von Mária Bartuszová (1936-96) und Juraj Bartusz (1933), von Anna Bartuszová (1961) und Soňa Bartuszová (1993). Mutter, Vater, Tochter, Enkelin. Nur im Zusammen- und Gegenspiel der Generationen entsteht Kunst und Kultur, so Šefčik, und nicht durch Neues ohne Tradition. In gewisser Weise verkörpert Viktor Šefčik die Haltung von Sándor Márai, für den die Vorfahren und das geistige Erbe des Bürgertums entscheidend waren.

Im reizvollen Košice endet das Europa der Kathedralen, in denen sich immer noch Schlangen von Beichtwilligen bilden, es endet aber auch die Europäische Union, so dass die kulturell mit der Slowakei verbundene Westukraine heutzutage visafern getrennt ist. Im Spiegel der hier häufig geschmähten Roma zeigen sich für Norbert Mappes-Niediek in seinem Buch Arme Roma, böse Zigeuner (Besprechung folgt) am klarsten die neuen Geiseln der Region: Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere und unterfinanziertes Gesundheitswesen. Wo die Hälfte der Arbeitsplätze verschwand und noch weitere abgebaut werden, geht es den am meisten Ausgegrenzten am schlechtesten. Diese neue Stunde der Stille fand noch nicht ihren Sándor Márai oder ihren Ivan Klíma.

Die jungen Rebellen Sándor Márai Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner, Piper 2001, 278 S., 8,90 €

Stunde der Stille Ivan Klima Aus dem Tschechischen von Maria Hammerich-Maier, Transit 2012, 253 S., 19 €

Achim Engelberg veröffentlichte zuletzt zusammen mit Ernst Engelberg die Familiensaga Die Bismarcks

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