Vor zehn Jahren starb er 56-jährig, der Dichter Thomas Brasch. Heute ist er nur noch wenigen bekannt als der prägnanteste Vertreter einer Familie, an der sich zentrale Konflikte des 20. Jahrhunderts dramatisch veranschaulichen lassen. Zwei jüngere Brüder, den Schriftsteller Peter und den Schauspieler Klaus, hatten zuvor Alkohol und Drogen hinweggerafft. Zwar ereilte der Tod den Vater Horst vor dem des Sohnes Thomas, dessen bekanntestes Werk die Erzählungen Vor den Vätern sterben die Söhne sind, aber mit 67 Jahren wurde er der bislang älteste Mann dieser Familie. Die Auseinandersetzung mit dem Vater, der es bis zum Vize-Kulturminister der DDR brachte, gegen den der Sohn Thomas nach der Niederschlagung der Reformen in der Tschechoslowakei 1968 protestiert hatte, gestaltete in den achtziger Jahren Heiner Müller in seinem letzten vollendeten Theaterstück, der Wolokolamsker Chaussee V.
Nach seiner Ausreise aus der DDR 1976 traf Thomas Brasch in New York einen Berliner Juden, der vor Hitler in die USA geflohen war und eine Künstleragentur gegründet hatte, die unter anderen Elisabeth Taylor und Leonhard Bernstein vertrat. Der Agent, Robert Lantz mit Namen, schlug Brasch vor, ein Buch zu schreiben, welches Das Eigentliche heißen sollte: „Ein jüdischer Junge, geboren in England, kommt zurück nach Deutschland und wächst auf in Stalins Reich. … Setzen Sie sich hin und schreiben Sie es, fangen Sie gleich damit an. Sie dürfen, solange Sie an dieser Geschichte arbeiten, nicht zurück nach Deutschland, Sie sitzen und arbeiten hier, dafür kriegen Sie von mir ein Appartement und jede Woche 250 Dollar – so lange, bis Sie mit dem Buch fertig sind, und wenn Sie drei oder mehr Jahre daran sitzen sollten.“ Brasch schlug das Angebot aus. Viel später wird Brasch seinem Freund Klaus Pohl gestehen, dass er das Angebot nicht noch einmal ausschlagen würde.
Der Herzschlag-Verlag
Mit dem Aufstieg von Thomas Brasch Ende der siebziger Jahre – als seine Stücke in den großen Häusern uraufgeführt wurden, seine Filme es bis in den Wettbewerb von Cannes schafften, sogar seine Gedichte sich gut verkauften – begann allmählich auch sein Abstieg. Nicht seine Familiengeschichte, sondern die des unbekannten Mädchenmörders Brunke erzählte Thomas Brasch, der immer mehr dem Kokain und Alkohol verfiel, in den neunziger Jahren. Tausende Seiten, die nun im Archiv der Akademie der Künste lagern. Als Suhrkamp ein Bändchen von knapp 100 Seiten publizierte, sprach es niemanden an.
Das Eigentliche schrieb nun ein anderer, besagter Freund Klaus Pohl. Der 1952 in Rothenburg ob der Tauber geborene und also im Westen aufgewachsene Dramatiker, der mit Braschs DDR-Jugendliebe, der Sängerin Sanda Weigl, eine Familie gründete, ist bekannt für sein Gespür für Stoffe und einen nicht in gleicher Weise ausgeprägten Sinn für Stil und Ästhetik (größter Erfolg bisher: Karate-Billi kehrt zurück). In gewisser Weise ist Pohl der Hochhuth seiner Generation.
Sein Roman, der nun den Titel Die Kinder der preußischen Wüste trägt, erzählt vom Generationenkonflikt zwischen Rückkehrern aus dem Exil und deren Kindern, hier vor allem zwischen Vater Horst und Sohn Thomas Brasch. Der Vater, der als junger jüdischer Mann sogar zum Katholizismus übertrat, aber dennoch bei Strafe des Untergangs vor den Nazis fliehen musste, der im englischen Exil zum Kommunismus konvertierte, in Deutschland diesen mit aufbauen wollte, an der Seite Erich Honeckers avancierte, bis er wegen des rebellischen Sohnes Thomas ins zweite Glied zurücktreten musste, bleibt dabei merkwürdig einschichtig. Klaus Pohl schwebte wohl, wie eine als Thomas Brasch kenntliche Figur verrät, ein „Tatsachenroman“ vor, in dem „im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Werk die Ereignisse auch fiktiv geschildert oder ergänzt werden“.
Manchmal sind diese Ergänzungen, etwa, wenn der Vater nicht am 18. August 1989, sondern während des Umsturzes im Herbst stirbt, sinnfällig und schön; insgesamt misslingt diese Absicht. Das Unentschiedene des Romans zeigt sich darin, dass er – im Gegensatz zum einprägsamen Werk Eugen Ruges – In Zeiten des abnehmenden Lichts (Freitag Nr. 40), das auch von einer Familie rückkehrender Emigranten und deren Nachkommen erzählt – keine adäquate ästhetische Form findet. Häufig bleibt unklar, ob dem Autor einfach Fehler unterlaufen oder ob er nur einen Ort, eine Person oder eine Situation verfremden will. Da liegt auf einmal Buckow am Schar- statt am Schermützelsee, warum ist Horst Brasch beim Mauerbau Ende 40 und nicht, wie es der Realität entsprach, Ende 30? Weswegen werden einige Titel und Einrichtungen mit Originalnamen versehen, andere mit Pseudonymen? So wird aus dem Rotbuch- der Herzschlag-Verlag; aus Günter Grass’ Blechtrommel eine Wundergeige.
Ein Entwurf
Man sprach in der DDR nicht von der Stasi, sondern von der Firma, Stasi ist ein Ausdruck des neu vereinten Deutschland. Die Bauern bekommen den „Hauptstoß des ideologischen Gewalthammers.“ Warum nicht den Schlag? Manche Bilder wirken befremdlich, sind wahrscheinlich aber nicht so gemeint: „Er wollte der Welt ein großes Leben aus den Adern pressen.“ Umständliche Formulierungen gibt es ständig („Im Badezimmer saß in der Badewanne…“). Da muss Heiner Müller als Günter Edmund auftauchen und wird einseitig als Zyniker abgestempelt. Überhaupt wird in diesem Buch zuviel gemeint und zu wenig dargestellt; und die Erklärungen sind häufig zu simpel und werden den oftmals vielschichtigen Gestalten und Gewalten nicht gerecht. So wirkt der Text, trotz einiger gelungener Szenen, immer wieder langatmig, ungenau, geheimnislos.
Die Kinder der preußischen Wüste bietet einen Jahrhundertstoff in Rohfassung. Nun hätten die Mühen der Ebenen bewältigt werden müssen, die stilistische und dramaturgische Feinarbeit mit schmerzhaften Kürzungen, langsamem Vorankommen, bis alles leicht und dennoch gehaltvoll, schwerwiegend und dennoch schwebend gewesen wäre. Weil Klaus Pohl das nicht bewältigte, bleibt sein Roman leider nur ein Entwurf, aber kein Wurf.
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Die Kinder der preußischen WüsteKlaus Pohl Arche Hamburg 2011, 496 S., 24.90 €
Von Achim Engelberg erschien zuletzt die Familiensaga Die Bismarcks (Siedler Verlag, zusammen mit Ernst Engelberg)
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