Der Fall Faust

1968 Der letzte öffentliche Theater-Skandal in der DDR

Es gab drei große öffentliche Skandale des DDR-Theaters: den ersten 1951 um Brecht-Dessaus Verhör des Lukullus, den zweiten um Peter Hacks' Stück Die Sorgen und die Macht im Deutschen Theater, Regie Wolfgang Langhoff. Beim dritten dieser Skandale war ich dann selbst dabei. Am 30.9.1968 kam im Deutschen Theater Berlin Goethes Faust heraus. Der Fall Faust unterscheidet sich von den beiden anderen dadurch, dass das Stück außerhalb jeder Kritik stand. Der Skandal betraf also allein die Inszenierung. Während zeitgenössische Autoren einer scharfen Kontrolle unterlagen, schien im Fall der Klassik alles entschieden: denn sie war unser. Niemand hatte darüber nachgedacht, dass auch da einmal was passieren könnte, und es war auch noch nie etwas passiert.

Die größte Überraschung war damals, dass die Aufführung, anders als man es von den Klassikern gewohnt war, die Leute amüsierte. Im Westen merkte ein Kritiker an: "...und dieser Beifall (auf offener Szene) gilt dem heitersten Faust, der je die Bühnenbretter betrat". Georg Hensel, Kritiker und Theaterhistoriker, schrieb in einem Buch über das Theater der 70er Jahre: "Dies ist die komödiantischste, die heiterste und volkstümlichste, die hinreißendste Faust-Afführung, die ich je gesehen habe... So ist bei dieser Aufführung von einer abstrakten Idee nicht die Rede, wohl aber davon, dass ihre Szenen rühren, erheben, belehren und vor allem ergötzen..." Wir hatten uns gesagt, dass es sinnlos sei, auf der Bühne Philosophie zu entwerfen - die Philosophie würde sich für den Zuschauer nur soweit realisieren, wie sie sich als Theater realisierte, und jede Art Lehre hätte nur Sinn, soweit sie auch Spaß machte. Wir wollten die Tiefe des Stücks durchaus nicht herabwürdigen oder uns gar darüber lustig machen; wir meinten nur, Lachen sei die durchschlagendste Form des Begreifens.

Die Schlagzeile im Westen "Der lustigste Faust, den es je gab" machten die DDR-Oberen dann gegen uns geltend. Der Komödien-Akzent aber war nicht nur für die DDR-Behörden, er ist wohl allgemein für uns Deutsche ein Problem. Wir sind halt, wie wir selbst glauben und wie unsere Nachbarn oft kopfschüttelnd sehen, "tief". Ich glaube, dass der anscheinend despektierliche Zug unserer Aufführung viel zu dem öffentlichen Verdikt beitrug, das heißt unsere ganze Art, nicht nur unsere Lesart. Feierliche Langeweile ist wohl immer das beste, wenn nichts passieren soll.

Wir haben, was sehr selten geschieht, auch den "Walpurgisnachtstraum" gespielt, und der wurde zu einem Hauptstein des Anstoßes und sofort nach der Premiere verboten. Bei Goethe ist der "Traum" eine Kabarettszene, in der er sich über Zeitgenössisches lustig macht. Seine Anspielungen sind heute ohne Kommentar nicht mehr zu verstehen. Wir haben damals die Texte neu geschrieben und auf unsere eigene Zeit bezogen. Ein illuminiertes Schild kündigte an: "Oberons und Titanias Goldene Hochzeit, Intermezzo". Oberon, Titania, Puck und Ariel wurden gespielt von unseren Vier aus Auerbachs Keller, und sie hatten genauso schön zu singen. Kostümiert waren sie prächtig-lumpig - Reinhardt hatte sich geweigert, etwas für sie zu entwerfen, wir hatten uns Passendes oder Unpassendes aus dem Fundus geholt, und man sah es den Sachen an. Alle hatten Zettel in der Hand mit dem Text, was auch nötig war, denn daran war bis zum Schluss geändert, meist entschärft worden. Bei Goethe kommen in der Szene lauter Gäste und bringen als Geschenk einen Vers mit. Einige der Verse zitiere ich hier - und gebe zu bedenken, dass wir das Jahr 1968 schreiben. Auf der Höhe des Blocksbergs war ein "Theater" angekündigt, und Oberon-Bienert sang:

In ein Theater soll ich gehn
das find ich gut, das find ich schön.
Na, bisschen staubig, bisschen klein,
das wird wohl das Deutsche Theater sein.
Seine Gemahlin Titania - Jürgen Holtz:
Das Deutsche Theater ist so nett,
ich geh so gern hin wie ins Bett,
jedoch ist die Enttäuschung groß,
so wie im Bett ist nichts mehr los.
Dann brachten Puck-Aust und Ariel-Lucke die Absagen - etwa:
Herr Heiner Müller lässt bestelln
dass er heut kränklich wäre,
er hatte gestern abend erst
mit einem Stück Premiere.
Oberon und Titania, tutti:
Ein Stück von Müller, wo denn das?
Wann gehen wir mal hin denn?
Antwort:
Zu spät, es ist schon abgesetzt,
und zwar aus technischen Gründen.

Das war damals starker Toback. Verbote von Müller-Stücken hatte es mehrmals gegeben, mit vergleichbar fadenscheiniger Begründung. Dann Titania:

Was ist denn mit meinem lieben Hacks,
dass der nicht kommt, der Kühne?
Der brachte eine Walpurgisnacht
doch auch mal auf die Bühne.
Antwort:
Ja eben, daran krankt er noch
die Sache ging nicht gut ja,
es kamen Marx und Moritz doch
nicht unter einen Hut da.

Das lag noch frisch in der Luft, Besson hatte an der Volksbühne Hacks' Moritz Tassow herausgebracht, er war als angeblich nicht marxistisch schon wieder aus dem Verkehr gezogen. Eine besondere Pikanterie war, dass ausgerechnet Holtz, der sich da nun auf der Bühne des DT als Titania mokierte, Bessons Tassow gewesen war. Dann Oberon:

Ach Gott, wer meine Dichter kennt,
das ist bei ihnen chronisch.
Wann schreiben Hacks und Müller endlich einmal salomonisch?

Das bezog sich nicht nur auf den weisen Salomon, sondern vor allem auf Horst Salomon, Autor des Lorbaß, ein Gegenwartsstück, das das Deutsche Theater ohne Beanstandung spielen durfte. Dann wieder Puck:

Auch im Metropol-Palast
Entsagt man der Klamotte,
Heute gibt man Kiss me Kast,
Morgen My Fair Lotte.
Heute muss man auch das kommentieren: Kast war ein gefeierter Neuerer und Aktivist, Lotte die Frau Walter Ulbrichts. Ich erinnere mich an einen Einwand von Wolfgang Heinz gegen den Text - er hoffe ja, dass dieser Herr Kast Humor hätte; aber Lotte - wer kenne im Publikum heute noch den Roman Lotte in Weimar? Wir klärten ihn nicht auf, und auch sonst haben wir ihn ein bisschen betrogen. Wir zeigten ihm viele Texte nicht, sondern sangen sie ihm gleich vor, sie erschienen dann etwas glimpflicher. Dass da sowieso nichts Politisches, sondern nur Kulturpolitisches zelebriert wurde, war schon Ergebnis unserer Selbstzensur. Die Intervention in Prag war kaum vorbei. Mit Bezug auf die Staatsloge, die zu unserer Zeit nur noch mit Scheinwerfen bestückt war, hatte es ursprünglich geheißen:

Leer ist auch der Staatsverschlag,
wo sind sie denn, die Alten?
Ab nach Peking und nach Prag,
und die Chose halten.
Das hatten wir schon selbst amputiert - doch wurde daraus die schecklichste der Pointen. Die vier Sänger summten die Strophe mit geschlossenem Mund, Puck-Aust trat vor, machte einen Diener und sagte, dieser Vers sei dankenswerterweise gestrichen worden; jeder ergänzte sich, was er wollte, und es gab ein riesiges Gelächter. Ariel weiter:

Wenn wir noch fertig spielen wolln,
dann keine lange Leitung,
soeben ging ein finstrer Herr
von einer wichtigen Zeitung.
Und wieder Puck:
Es kommt ein prominenter Gast
im Kutschenschlag gefahren,
s' ist Johann Wolfgang Eckermann
mit sieben Archivaren.
Sie haben was Furchtbares entdeckt
und wolln Prostest erheben:
es soll nicht alles Goethe sein,
was wir zum Besten geben.
Das hatte inzwischen ja wohl jeder gemerkt.

Der Schluss des Premierenabends war denkwürdig. Ich stand oben auf dem 2. Rang, es lief die Schlussszene, Gretchen im Kerker - bei uns, wieder, wie am Anfang, auf leerer Bühne, darauf ein kleiner Koben, in dem sie hockte und der zunächst mit einem Metalldeckel verschlossen war. Düren-Faust hatte ihn abzureißen; er warf ihn, wie verabredet, in die Bühne - und hörte auf zu spielen. Ich sah aus der Entfernung nicht, was passiert war, und rannte hinunter. Später habe ich die Zeit gestoppt, man braucht von da oben bis zur Bühne mindestens eine Minute. Eine Minute auf der Bühne ist sehr lang. Als ich unten ankam, stand die Szene still, der Inspizient sah entsetzt auf die Schauspieler - Düren hatte sich an dem Deckel die Hand aufgeschnitten, auf dem Boden war eine Blutlache. Ich rief: "Vorhang", "Theaterarzt", "Licht vor den Vorhang", und ging hinaus, um anzusagen, Herr Düren hätte sich verletzt, ich bäte um Entschuldigung für eine kurze Pause, er müsse verbunden werden, wir würden mit der Szene gleich nochmal beginnen - da sah ich, ein wenig durch die Scheinwerfer geblendet, wie die Leute in den Reihen vor mir sich erhoben und den Saal verließen. Großer Gott, dachte ich, und das passiert in der Schlussszene! Alles ist aus. Dann fiel mir ein: Das ist ja die ganze politische Prominenz, Politbüro, ZK, Regierung... Hinter der Bühne hatten sie inzwischen das Blut weggewischt, Düren hatte einen Verband um die Hand und die Szene lief, bei unbesetztem vorderen Parkett, konzentriert zuende.

Es war dann eine ziemlich lange Stille. Der Applaus, der dann begann, war sehr groß, vielleicht der größte, den ich erlebt habe. Zum Teil war er wohl auch dem Aufbruch unserer Politiker zu verdanken - was die ablehnten, das musste ja gut sein. Die Folgen aber ließen nicht lange auf sich warten. Am Morgen nach der Premiere, ich war noch nicht ganz nüchtern, stand schon der Fahrer des Theaters vor meinem Haus in der Singerstraße. Alle waren schon bei Wolfgang Heinz versammelt, die Dramaturgen, dazu zwei Vertreter des Ministeriums. Der Minister bedaure, dass nach den richtungweisenden Vorstellungen in Weimar und Leipzig nun diese Vorstellung in Berlin zu sehen sei. Der Walpurgistraum sei sofort zu streichen. Ferner riete der Minister... - es folgte eine Liste von, wenn ich mich recht erinnere, 60 Änderungswünschen, zum Teil sehr erheblichen. Sie seien sofort zu realisieren. Unausgesprochen stand als Alternative dahinter das Verbot. Wir hatten keine Angst. Die Verhältnisse der DDR waren nicht mehr so, dass man befürchten musste, eingesperrt zu werden. Auch die Westpresse bot uns einen gewissen Schutz. Es wäre damals wohl sogar so gewesen, dass ein Verbot des Faust im Deutschen Theater Berlin uns in der Welt berühmt gemacht hätte. In der DDR wären wir Märtyrer gewesen. Dass wir den Forderungen des Ministers nachkamen, hatte einen Grund, den viele heute vielleicht nicht mehr verstehen: diese internationale Blamage der DDR wollten wir nicht. Soweit waren wir doch DDR-Bürger. Unsre Opposition enthielt immer ein Stück Identität. Es ging uns da nicht viel anders als früher Brecht mit dem Verhör des Lukullus und Langhoff mit den Sorgen und die Macht.

Ein Politikwissenschaftler (heute Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung) aus München, Ralph Hammerthaler, schreibt dazu: "Bezeichnend für die Intellektuellen am Theater in der DDR war der kritische Impetus auf der Grundlage sozialistischer Wertvorstellungen. Sie setzten der konkreten DDR eine gleichsam ideale entgegen ... Dadurch belästigte ihre Kritik zwar in einem fort die Regierungstätigkeit, doch sie war störungsfrei an das Wahrheitsregime gekoppelt." Nun ja. Dann bringt Hammerthaler ein Zitat von mir: "Sie (wir DDR-Intellektuellen) konnten an ein ehemals gleiches Bewusstsein appellieren, sie sprachen dieselbe Sprache, hatten ähnliche Argumente, erinnerten an gemeinsame Ideale. Sie waren eine Kritik immer noch von innen, gewissermaßen das schlechte Gewissen der Führung." Das miss versteht Hammerthaler auf charakteristische Weise: "Wenngleich Dresen aus dieser Verflechtung den politischen Vorteil zieht, daß beständiger Widerspruch möglich war, ohne als Staatsfeind denunziert zu werden, schien der diskursive Anschluss an die herrschende Ideologie auf Kosten oppositioneller Kräfte zu gehen. Diese nämlich wurden ausgegrenzt von der offiziell legitimierten Meinungs- und Verhaltensäußerung." Hammerthaler hält offenbar eine Opposition von links für unmöglich, eine Opposition, die nicht für einen Anschluss an den Westen votierte; er zog auch nicht in Betracht, dass eine innere Opposition für alle herrschenden Cliquen meist die gefährlichste ist. Hammerthaler vereinfacht schwarz-weiß, und das ist heute leider an der Tagesordnung. Einige meiner Freunde, die in Zuchthäusern der DDR gesessen haben, heißen heute "systemnah" und gelten geradezu als Nutznießer des Systems. So kann man DDR-Kritiker, weil sie ebenso Kapitalismus-Kritiker sind, von vornherein diskreditieren. Die Geschichte der DDR wurde schon zu DDR-Zeiten gefälscht. Sie wird heute wieder gefälscht, wenn auch mit anderem Ziel.

Zu den Folgen des Faust-Skandals gehörte der Rücktritt von Wolfgang Heinz als Intendant, für das Theater eine Katastrophe - doch nicht mehr zu vergleichen mit den Katastrophen nach Lukullus oder den Sorgen und die Macht. Seit der Intervention in Prag war das Bild verändert. Für viele von uns war ein wahrer Held jetzt etwa der sowjetische Major, der, als er merkte, dass er auf dem Wenzelsplatz war, den Befehl verweigerte und seine Erschießung riskierte. Zu den Spätfolgen des Falles Faust gehörte auch mein Weggang nach dem Westen.

Der Faust-Skandal war der letzte dieser Art in der DDR - die DDR-Regierung hatte offenbar daraus gelernt. Die Aufführung wirkte auf viele andere. "Diese Inszenierung", sagte Lothar Ehrlich nach einer Tagung über Weimarer Klassik in der Ära Honecker, "war ein Wendepunkt." Ähnlich urteilte Bernd Mahl in seinem Faust-Buch. Auch Wolfgang Engel beruft sich mit seiner Leipziger Aufführung auf die Berliner. Die Wirkung aber war auf den Osten nicht beschränkt. Als ich später Peymanns Aufführung in Stuttgart sah, sah ich vieles, was mir recht bekannt vorkam - das hatte Freyer, sein Bühnenbildner, aus den Osten mitgebracht. Der Ostberliner Faust wurde als erste Ost-Aufführung zum Westberliner Theatertreffen eingeladen - was wir damals nicht einmal erfuhren.

Den vollständigen, hier nur in Auszügen veröffentlichten Vortrag hält Adolf Dresen im Leipziger Schauspielhaus am 19.11.1999

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