Vieweg hockte auf dem Teppich zwischen den leuchtenden Bänden der Geschichte der Arbeiterbewegung.
"Zum Beispiel Dietrichkeit", sagte er und blätterte im Register.
"Nicht drin."
Ich hatte den Namen nie gehört, doch in dieser "Geschichte" war vieles nicht drin - auch Vieweg selber nicht.
Die Zuverlässigkeit von Viewegs eigenen Berichten war umstritten. Erzählte er etwas mehrmals, veränderte es sich mehrmals. Er selbst behauptete, es würde immer wahrer. War man bei etwas selbst dabeigewesen, erkannte man es kaum wieder - besser gesagt: man erkannte es überhaupt erst. Insofern machte Vieweg Geschichte - er machte sie zur Geschichte, machte jedenfalls Geschichten daraus.
Ich bin seither überzeugt, dass Realität eine Sache der Phantasie ist. Wo nur noch ist, was ist, da zählt schließlich nur noch der Beton, die Wirklichkeit von Wänden. Die Wahrheit will erfunden sein.
Vieweg erzählte mir die Geschichte von Dietrichkeit - seither wurde Dietrichkeit für mich zum Typus dessen, der "nicht drin" ist. Das beste Zeugnis für seine Wahrheit scheint mir geradezu, dass es keines gibt. Dietrichkeit war Schmied bei Blohm und Voß in Hamburg. Er war Mitglied der KPD.
Anfang 33 erschien er mit einem großen Koffer in der Parteizentrale.
Ja, was er wolle.
Ob es stimme, dass die Partei in die Illegalität müsse. Das hätte der und der gesagt.
Hm.
Und dass die Partei diesbezüglich knapp bei Kasse sei.
Hm.
Also, wenn das alles denn man stimmen würde, wie das der und der gesagt hätte - da wäre also Geld.
Er stellte den Koffer hin. Als man ihn öffnete, fielen gebündelte Banknoten heraus.
So. Wo er das Geld denn herhabe.
Ja, da sollten sie sich man gar keine Sorgen machen, das ginge schon in Ordnung, das Geld wäre von den Ausbeutern, und die hätten es ja selber -.
Es stellte sich heraus, dass er einen Einbruch gemacht und die gesamte fällige Lohnauszahlung von Blohm und Voß mitgenommen hatte.
Zu seiner Überraschung schien der Sekretär nicht erfreut, sondern ging blass im Zimmer auf und ab und schließlich sogar hinaus. Dietrichkeit wartete ergeben. Schließlich kam der Sekretär zurück: - er solle abhaun.
Als Dietrichkeit zur Tür ging: - und den Koffer mitnehmen.
Ja, was er denn nu damit machen solle?
Da solle er zusehn. Die Partei sei kein Nest für Ganoven. Im übrigen, darauf könne er sich verlassen, werde das Folgen haben.
Dietrichkeit ging.
Und so ereignete sich der in der Kriminalgeschichte wahrscheinlich beispiellose Fall, dass mit einem Einbruch Geld in eine Bank gebracht wurde.
Dietrichkeit schnitt den Artikel, der darüber in einer Zeitung erschien, mit der Schere aus und schickte ihn der Parteileitung. Er dachte, damit sei die Sache aus der Welt. Er hatte sich geirrt.
Stumpf und verständnislos stand er einige Tage später vor der Mitgliederversammlung, die ihn einstimmig ausschloss. Die Begründung begriff er nicht. Es war die Rede von Munition für den Klassenfeind, es hieß, dass er ein feindlicher Agent und Provokateur sei, der die Partei in Verbot und Illegalität treibe, dem man aber das Handwerk gelegt habe. Er musste seine Mitgliedskarte abgeben. Als er allein nachhause ging, war ihm, als hätte er jemand erschlagen, könne sich aber nicht erinnern wen. Wenig später fanden die Hamburger Genossen sich im dänischen Exil wieder. Die Unterstützung durch die Rote Hilfe war gering, und im Andenken an den verstoßenen Dietrichkeit ging der Gesang:
"Junge, wir sind ganz im Tal,
könntest du nicht wiedermal?"
Dieser Wunsch sollte ziemlich schnell in Erfüllung gehen.
Auch Dietrichkeit hatte flüchten müssen und saß in Kopenhagen, ohne Verbindung zur Partei und ohne Unterstützung. Man konnte ihn auf der Straße alten Genossen auflauern sehen. Die gingen manchmal mit ihm "einen trinken" und sagten auch im Vertrauen, er, Dietrichkeit, hätte "eigentlich Recht gehabt", jetzt wäre jedenfalls alles so geworden wie er damals... Dietrichkeit hielt die Zeit seiner Rehabilitation daher für gekommen.
Er wohnte bei einem kleinen Taxiunternehmer und reparierte diesem die Autos, ohne Schlosserkenntnisse, nur mit Brenner und Brecheisen, aber in der Überzeugung, dass jedem Ding irgendwie beizukommen sei. Und ohne ein Wort Dänisch, aber in derselben Überzeugung, erklärte er auch dem Taxiunternehmer, dass die Partei, der sie beide nicht angehörten, Geld brauche. Das Geld könne man am leichtesten dort beschaffen, wo es am häufigsten vorkomme, zum Beispiel in einer Bank. Die Ansicht des Unternehmers, das sei verboten, fand er unzutreffend - solche Verbote machten Kapitalisten für Kapitalisten. Für einen Kapitalisten hielt der Unternehmer sich nicht.
Dietrichkeit wurde nun nicht mehr gesehen in den Straßen Kopenhagens - bis er eines Tages groß an allen Anschlagsäulen prangte: er wurde steckbrieflich gesucht. Er hatte mit dem Taxiunternehmer einen Einbruch gemacht, dieser aber hatte bei der Flucht aus unerklärlichen Gründen das Gaspedal nicht finden können und war sofort verhaftet worden. Dass es auch Dietrichkeit erwischt hatte, erfuhr die KP-Leitung wenig später durch eine Anfrage der Kopenhagener Polizei; ob ihr Dietrichkeit als Kommunist bekannt wäre.
Dietrichkeit hatte geglaubt, wenn er geschnappt würde, könne er die Strafe "auf einer Backe" absitzen. Er hatte sich getäuscht.
Als deutscher Reichsbürger war er auszuliefern, die Auslieferung an Nazideutschland aber bedeutete für ihn praktisch das Todesurteil. Die Dänen waren keine Unmenschen. Auf den Nachweis hin, dass er Kommunist sei, wäre er in Dänemark normal verurteilt worden. Dieser Nachweis schien Dietrichkeit kein Problem. Erstaunt hörte er daher im Gerichtssaal den Übersetzer sagen, Recherchen hätten ergeben, dass er der Kommunistischen Partei Deutschlands nicht bekannt sei. Ohne Verständnis, aber ohne zu widersprechen, sah er den Vorsitzenden an, und als man ihn fragte, ob er etwas zu erwidern hätte, sagte er nur etwas auf Plattdeutsch, was der Dolmetscher offenbar nicht verstand, und ließ sich abführen. Widerstandslos bestieg er im Januar 34, eskortiert von dänischer Polizei, ein dänisches Frachtschiff in Richtung Bremen. Die Akte Dietrichkeit, so schien es, war damit geschlossen.
Zwei Jahre später begann der Bürgerkrieg in Spanien, und viele Kommunisten, froh, dass sie nicht mehr herumsitzen mussten, machten sich auf den Weg. Um diese Zeit tauchte in Kopenhagen ein gutgekleideter Herr auf, mit modischem Doppelreiher, hellem Hut, ein norwegisches Seefahrerabzeichen am Revers, der auf den Straßen alten Kommunisten auflauerte. Wegen seines seriösen Anzugs gelang ihm sogar der Vorstoß zur Zentrale. Dort zog er als erstes die Jacke aus und erklärte: "Es ist soweit, Genossen, es geht los."
Es war Dietrichkeit. Er war der Ansicht, die Weltrevolution stünde bevor, jetzt käme es nicht mehr darauf an zu lernen, sondern zu schießen - für die entsprechenden Waffen habe er gesorgt. Er legte eine Liste mit einer Aufstellung von Waffen englischer Herkunft auf den Tisch. Aus der Aufstellung ergab sich, dass sie in einem Hafenschuppen von Oslo lagen, bereit zum Abtransport nach Spanien. Als die Partei sich abwartend verhielt, konnte er den Nachweis erbringen, dass er 1. die Waffen ordnungsgemäß gekauft, 2. das Geld dafür nicht gestohlen und dass 3. er selbst "vollkommen verbürgerlicht" sei. Mit einiger Mühe ließ sich seinem Gerede entnehmen, dass er bei seinem Transport von Kopenhagen nach Bremen, offenbar begünstigt durch die dänische Mannschaft, ins Eis gesprungen war, dass ein Noweger ihn aufgefischt und mitgenommen hatte, dass er in Norwegen sofort all seine Fehler erkannt, geheiratet und einen Bauch angesetzt hatte, dass er dort sogar eine Zellulosefabrik besaß, woher, das blieb unklar, aber es war ja nicht anzunehmen, dass er sie gestohlen hatte - wahrscheinlich hatte seine Frau sie geerbt. Auf Grund der "veränderten Lage" aber sei er jetzt gekommen, um mit dem Kapitalismus Schluss zu machen.
Die Parteileitung wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, und hatte vor, beim ZK in Moskau nachzufragen. Wann ein Kurier abgehen konnte, war allerdings unklar, unklar auch, wie lange man dann auf Antwort warten müsste. Und so stand Dietrichkeit im Regen an den alten Treffs herum, bestellt, aber nicht abgeholt, geduldig, mit langsam zerknitterndem Anzug und verdreckendem Hemd. Traf er zufällig doch einen alten Genossen, so hatte der "keine Zeit", oder er wurde "beschattet", oder er sagte ganz einfach "hau ab". Inzwischen kämpfte die Volksfront in Spanien um ihr Leben.
Mit seiner Beteiligung am Spanienkrieg wäre Dietrichkeit beinahe doch noch in die Geschichtsbücher eingedrungen. Er erhielt die höchste Auszeichnung der Volksfrontregierung, und sein Bild ging durch die Agenturen der Weltpresse. Sein etwas unsauberer Heroismus aber war wohl zur Darstellung nicht geeignet. Ihm fehlte, wofür alle Heroen der Welt einen Sinn haben: die Pose.
Als er nach Spanien kam, fand er nicht, wie er erwartet hatte, die Weltrevolution, sondern das einzige, was er zeitlebens gefürchtet hatte: Schulungen. In einem Ausbildungslager bei Albacete übte er mit den Waffen, die er beschafft hatte, rechtsum, linksum, Gewehr auf, Gewehr ab, wie beim Barras, er saß auf Holzbänken und lernte, dass seine Moral höher sei als die der Faschisten, und abends kamen Künstler, die Musik machten und Gedichte aufsagten, und statt ins Bordell musste er zu Veranstaltungen gehen und stillsitzen. Der Kommissar mochte ihn nicht, weil er ihm den Wettbewerb versaute, und es fehlte nicht viel, dann hätte man ihn als unwürdig entlassen. Doch es wurden Freiwillige gesucht für Operationen hinter den feindlichen Linien. Dietrichkeit erfüllte eine wesentliche Bedingung nicht: die perfekte Beherrschung der spanischen Sprache. Er konnte kein Wort. Dass man ihn trotzdem nahm, lag an dem Mangel an Bewerbern. Es war ein Himmelfahrtskommando. Und so verschwand Dietrichkeit nach einem Schnelllehrgang und der einzigen Feier, die ihm wohl zeitlebens zuteil wurde - "Und so entsenden wir nun unsere Besten..." - in Richtung Süden. Man hörte nichts mehr von ihm. Wann immer aber irgendwo eine Brücke hochflog oder ein Munitionsdepot explodierte, war das ein donnernder Gruß von Dietrichkeit. Mit seiner Wiederkehr rechnete niemand. Da kam seine große Stunde. Im Frühherbst 36, als er in andalusischen Maisfeldern herumkroch, um seinen Strohsack zu stopfen, sah er plötzlich über'm Feld etwas Leuchtendes, in der Sonne Funkelndes - zwar, wie sich herausstellte, eine Mütze, doch nicht die Mütze eines andalusischen Feldarbeiters. Als er näher herankroch, hörte er auf dem Weg einen Wagen brummen. Der Wagen stand mit offener Tür, der Fahrer saß darin. Die glänzende Mütze war im Feld untergetaucht, plötzlich aber hatte er sie dicht vor sich. Sie war fast das einzige Kleidungsstück, das ein Mann trug, der vor ihm im Mais hockte und ihm den nackten Hintern zeigte. Die Hose, mit breiten Biesen, lag etwas abseits - die Uniform war Dietrichkeit unbekannt, sie schien keine von den spanischen Faschisten zu sein. Trotzdem fackelte er nicht, Biesen sind Biesen, griff zu und steckte den kackenden Offizier samt Mütze, ohne Hose und Jacke, in seinen Sack. Dessen Hilferufe blieben schüchtern, da er jedem Retter einen erschreckenden, mit der Ehre eines Offiziers unverträglichen Anblick geboten hätte. Er verhielt sich still, bis er herausgelassen wurde - und das war auf einer Pressekonferenz der Volksfrontregierung in Madrid. Er wurde der internationalen Presse vorgestellt und war eine Weltsensation. Es handelte sich tatsächlich nicht um einen spanischen Offizier, sondern um einen italienischen General, General Mussolinis, und es gelang so zum erstenmal der Nachweis, dass die spanischen Putschisten vom internationalen Faschismus unterstützt wurden - eine klare Verletzung des Völkerrechts.
Nachdem Dietrichkeit einen Moment lang in die grellen Lichter der Kameras geraten war, verschwand er im Dunkeln. Er hat wahrscheinlich nicht die mindeste Form der Unsterblichkeit, den Stein mit Namen, er ist nicht einmal ordentlich tot. Er könnte ohne weiteres plötzlich auf beliebiger Straße stehen und ehemaligen Genossen auflauern mit seiner fatalen Bereitschaft. -
Und ist es wieder mal soweit, das Ding, wer dreht es? Dietrichkeit.
Adolf Dresen: Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Reden, Briefe, Verse, Spiele. Hrsg. von Michael Hamburger, mit einem Nachwort von Friedrich Dieckmann, Theater der Zeit, Recherchen 3, Berlin 2000, 400 Seiten DM 32,00
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