Im Spitzensegment

Architektur Der Hochhausboom unserer Tage ist beispiellos und verrät einiges über die gesellschaftlichen Verhältnisse
Ausgabe 14/2015

Nach oben ist die Skala scheinbar offen. Während in Saudi-Arabien der erste Kilometerturm gebaut wird, träumt der italienische Architekt und Theoretiker Massimiliano Fuksas davon, eine komplett vertikale Stadt zu entwerfen, in der es kaum noch Autos geben wird und die Menschen sich begegnen können. In Mailand wird unterdessen für 85 Millionen Euro bereits ein vertikaler Wald realisiert. 730 Bäume, 5.000 Büsche und 11.000 Pflanzen winden sich an dem Hochhaus empor, ein Naherholungsgebiet auf Stelzen. „Biologische Architektur“ nennt es das ausführende Architekturbüro von Stefano Boeri.

Die Natur soll wieder in die Stadt, das fordern Urbanisten ja schon lange. In Singapur entsteht gerade eine vertikale Farm, und im brasilianischen Santos steht das Memorial NecrÓpole Ecumênica, ein 32-stöckiges Bauwerk, in dem seit 28 Jahren Tote beerdigt werden. Nun hat die Höhe hier weniger mit spirituellen Hoffnungen zur Erlangung des Jenseits als mit pragmatischen Erwägungen zu tun. In der Stadt ist schlicht kein Platz.

Ein Grab für alle

Der Architekturstudent Martin McSherry hat vor einiger Zeit seine kontroverse Idee eines vertikalen Friedhofs für Kopenhagen präsentiert. Die herkömmlichen Friedhöfe will er nach und nach in öffentliche Parks umwandeln, die Toten sollen ihre letzte Ruhe in einem Turm finden, mitten in der Innenstadt und für alle weithin sichtbar. Ist das geschmacklos oder zweckmäßig? „Irgendwann“, sagte McSherry schön doppeldeutig, „wird das höchste und größte Gebäude der Stadt ein Grab für alle Bewohner werden.“ Sein Vorschlag ist rein hypothetisch. In Verona könnte indes schon in den nächsten Jahren ein 130 Meter hoher Friedhofsturm entstehen, ein Komplex, der vom Bestattungsinstitut bis zum Blumenladen alles unter einem Dach vereint.

Doch nicht nur die Funktionalität, auch Form und Ästhetik der Wolkenkratzer wandelt sich. Hochhäuser sind Manifestation von Macht. Autoritäre Regime demonstrieren gern ihre Größe mit monumentalen Bauten. Doch die postmodernen Wolkenkratzer tragen eine andere Handschrift. Da sind zum Beispiel die von Startarchitekt Daniel Libeskind in Singapur entworfenen Investorenwohntürme Reflections, die wie wogende Segelschiffe aussehen. Der Capital Gate Tower in Abu Dhabi, ein Spiel mit dem schiefen Turm von Pisa, neigt sich in einer Höhe von 160 Metern um 18 Grad (14 Grad mehr als das Original). Oder der imposante Hochhausentwurf der Architektin Jeanne Gang aus Chicago, der sich wie eine Liane in die Höhe schlängelt. In London wurde mit 20 Fenchurch Street ein Hochhaus gebaut, das mit seinen konkaven Kurven wie ein Walkie-Talkie anmutet und im Volksmund auch so genannt wird. Zwei nach innen gewölbte Fassaden weiten sich am unteren und oberen Ende. Aufgrund der Reflexion von Sonnenstrahlen schmolzen vergangenes Jahr Karosserieteile eines Jaguars. Vor allem aber mutet die geschwungene, glatte, biegsame Fassade wie ein Spiegel unserer hochflexibilisierten Arbeitswelt an.

Architektur sagt viel über den Zeitgeist aus. Der britische Schriftsteller Will Self verglich die neuen Bauten in ihrer Angeberattitüde mit Designerhandtaschen: „Diese Gebäude sind kindlich in ihrem Bestreben, der Stadt ihre kruden Formen als eine Art von Werbung aufzudrängen. Ihre Investoren wollen, dass wir uns zu ihren gigantischen Handtaschen hingezogen fühlen, nicht weil sie besonders gut gestaltet oder geräumig wären, sondern einfach, weil sie identifizierbar sind.“

Die Reflections-Türme von Daniel Libeskind in Singapur

Foto: Imagebroker/Imago

In seinem Buch Panische Stadt (2004) bezeichnete der Philosoph Paul Virilio Hochhäuser als vertikale Sackgasse. Nach 9/11 sah es für eine Weile auch so aus, als wäre das Jahrhundert der Wolkenkratzer vorbei. Die einstürzenden Türme wurden zu Ikonen eines Zeitalters, das jäh beendet schien. Doch die Fragilität des Fundaments war offensichtlich nichts gegen die Fragilität fiktiver Werte, die an den Börsen der New Economy gehandelt wurden und die nächste Blase befeuerten. Ein Hochhaus kann einstürzen, aber der Glaube an den Fortschritt und das schnelle Geld ist unerschütterlich. Und so wurde weiter gebaut – das Narrativ, nein, der Imperativ des Wachstums ist geblieben.

Fahrstuhl fürs eine Prozent

In den Innenstädten dienten Hochhäuser lange Zeit hauptsächlich als Büros für Banken, Versicherungen oder Lobbyverbände, die ein repräsentatives Gebäude suchten. Doch mittlerweile hat die urbane nouveau riche Wolkenkratzer für exklusives Wohnen entdeckt. „Der Hochhausboom in New York und London zeigt, dass in beiden Städten der private Wohnungsmarkt ausschließlich auf das Superluxussegment fokussiert ist“, sagt Benjamin Flowers, Architekturprofessor am Georgia Institute of Technology. „Die Kunden in diesen Märkten, die es vor zwei Jahrzehnten noch gar nicht gab, gehören zum globalen einen Prozent, das es sich leisten kann, 50 Millionen Dollar für eine oder mehrere Wohnungen auszugeben. Das enorme Wachstum von Wohnhochhäusern ist die Illustration der wachsenden weltweiten Vermögensungleichheit, nicht zwischen Arm und Reich – sondern zwischen Mittelklasse und Reich.“

Dabei assoziierte man Wohntürme ursprünglich mit Sozialbauten oder Slums, denken wir zum Beispiel an die Hochhäuser im Norden von Neapel oder die Trabantensiedlungen in den französischen Vorstädten. Wer reich war, hatte üblicherweise ein Haus oder eine Villa am Stadtrand. Heute sind Hochhäuser das Domizil der Superreichen. Der Fahrstuhl ist zum Nadelöhr des sozialen Aufstiegs geworden. Nach oben kommt nur, wer in den Fahrstuhl darf, er trennt die Begüterten vom Rest der Bevölkerung. Das Hochhaus als Symbol für die soziale Leiter.

In London werden günstige Wohnungen in Luxusimmobilien integriert, mit separatem Treppenhaus und getrennten Briefkästen. Die weniger betuchten Mieter betreten ihr Zuhause über eine Tür in einer Seitenstraße. Poor door,Armentür, heißt dieser Extraeingang, zwei Klassen in einem Gebäude. Mülltonnen und Fahrradstellplätze werden nach Besitzverhältnissen getrennt. Der Fassade sieht man diese Form der Seggregation nicht an.

Die modernen Hochhäuser strecken sich nicht mehr statuarisch gen Himmel, sondern sind eher verspielt und ausweichend. Die Helden der Vertikale sind ein bisschen wankelmütig geworden. Ein Beispiel liefert Herzog & de Meurons 56 Leonard Street in New York. Es sieht aus, als hätte jemand Holzklötze nicht akkurat gestapelt. Der Bau wird oben wie eine Ziehharmonika auseinandergezogen, er bildet Terrassen aus und Freiräume. Eine Bauweise, die Platz spart und die Stadt verdichtet, private Gärten, die in hängende Parks übergehen. Ein Zukunftsmodell? Wahrscheinlicher ist, dass die Höhe endgültig zum Privileg der Reichen wird und die Stadt von morgen auch sozial gespaltener als die Städte des 19. Jahrhunderts.

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