Friedlich absteigen

Eventkritik Nach Ausschreitungen im März durften beim Hertha-Spiel viele Fans nicht ins Stadion. Sie wollten ihre Mannschaft mit einem Public Viewing unterstützten – vergeblich

Berlin ist die Hauptstadt des Public Viewing. Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 werden kollektive Jubelarien vor Riesenleinwänden automatisch an der Spree verortet. Aber auch jenseits der Großturniere wird gemeinsam Fußball geschaut. Weil die Stadt die Metropole der Zugereisten ist, hat fast jeder Bundesligaverein eine eigene Fußballkneipe mit Bezahl-TV-Abo. Und so treffen sich im Prenzlauer Berg oder in Kreuzberg Exil-Werderaner oder Berlin-Dortmunder zum Heimatgucken.

Die Fans von Hertha BSC Berlin fielen bisher da raus. Denn erstens gibt es von ihnen nicht all zu viele, schon gar nicht in den Trendvierteln. Und zweitens bietet das Berliner Olympiastadion ihnen – bisher – alle zwei Wochen Bundesliga live. Ausverkauft war es schon lange nicht mehr, Platz ist für alle. Wenn sie denn rein dürfen.

An diesem Samstag dürfen sie nicht rein, zumindest die hartgesottenen Hertha-Fans aus der Ostkurve nicht. Der DFB hat ihnen für das Spiel gegen den VFB Stuttgart Stadionverbot erteilt. Nach der Heimniederlage am 13. März gegen Nürnberg rannten gut 100 Fans auf das Spielfeld. Sie drohten, schrien und traten Bänke und Werbebanden zu Klump. Eine Debatte um Gewalt in Stadien entflammte, das DFB-Sportgericht fällte ein hartes Urteil. Nur 25.000 Fans dürfen ins Stadion, die Ostkurve muss leer bleiben. Und das im Abstiegskampf. Schuldbewusst wollten einige Fans Reue zeigen – und organisierten ein Public Viewing in der Waldbühne, unweit des Stadions. Die Einnahmen aus Eintrittsgeldern und T-Shirt-Verkäufen gehen an den Verein.

Sektion Stadionverbot

Es beginnt mit einer Prozession. Knapp 1.000 Fans haben sich zwei Stunden vor Anpfiff vor dem Olympiastadion versammelt. Es ist ein Zug der Ausgestoßenen, der Zeichen setzen will. Ein verspäteter Ostermarsch gegen den DFB. Jugendliche und junge Männer, in Jeans und Kapuzenpullis, fast alle mit blau-weißen Schals, ein paar in Spieler-Trikots, laufen einem breiten Banner hinterher. „Ultras – Sektion Stadionverbot“ steht da in blauen Lettern auf weißem Grund. Ultras sind die härtesten Fans eines Fußballvereins. Ein Mann mit Megafon heizt die Menge an. Vor dem Eingang zur Waldbühne warten Polizisten in schwerer Kampfmontur. „A-C-A-B“ skandiert eine kleine Gruppe Fans. Das Kürzel steht für „All Cops are Bastards“. Nicht nett, aber dann geht’s doch ganz friedlich rein ins Rondell.

Die Waldbühne ist im Stil eines antiken Amphitheaters in den Hang gebaut. Zu den Olympischen Spielen 1936 wurde sie von den Nazis errichtet, für Boxkämpfe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie Konzertkulisse. Legendär der miserable Auftritt der Rolling Stones 1965, nachdem enttäuschte Fans die Anlage zerlegten. Das soll heute nicht passieren, Ordnungshüter mit Kameras filmen die einströmenden Zuschauer. Die Fans steigen die steilen Treppen hinab. Vom oberen Rang bis runter zur Bühne sind es gut 200 hohe Stufen. Ein harter Abstieg mit zwei Bierbechern in der Hand. „Aber Joopi Heesters is’ dat auch schon hochjehüpft“, witzelt ein Ordner.

Im unteren Drittel sammeln sich die Ultras. Sie schwenken riesige Fahnen und rufen „Stuttgartaaaa! Arschlöchaaaa!“. Bei Anpfiff ist die Waldbühne zu einem Drittel gefüllt, auch viele Familien sind da. Von 7.500 Zuschauern sprechen die Verantwortlichen später. Die Leinwand ist der Star. Mittig steht das 100-Quadratmeter-Ungetüm auf der Bühne. Gezeigt wird die Spielübertragung des Pay-TV-Senders Sky. Ohne Sprecher-Kommentar, stattdessen wird die Geräuschatmosphäre aus dem benachbarten Olympiastadion übertragen. Es wirkt wie ein seltsames Playback, gegen das die Fans in der Waldbühne ansingen. Die TV-Kameras schwenken über die Stuttgart-Fans im Stadion. Pfiffe in der Waldbühne. Dann kommen Bilder der menschenleeren Ostkurve, in der nur Fahnen als Platzhalter liegen. Stille vor dem XXL-Fernseher.

„Och, ist das bitter“, sagt Tim Mayer, der normalerweise in der Ostkurve seine Mannschaft anfeuert. „Die hätten uns wenigstens ein paar Stuttgarter hier reinsetzen können. Ohne die fehlt irgendwie das Feindbild.“ Die Strafe des DFB findet er ungerecht, die ganze Ostkurve sei mit dem Stadionverbot in Sippenhaft genommen worden. In erster Linie hätten die Ordner versagt, meint Mayer. Die hätten „die ersten acht, neun Randalierer einfach wegpflücken sollen. Dann wären die anderen auch nicht nachgekommen.“

Eine große Verschwörung?

Während er spricht, flimmert ein saisontypisches Hertha-Spiel über die Leinwand. Die Elf ackert und rackert, Tore kommen dabei nicht heraus. Als Hertha-Stürmer Theofanis Gekas aus abseitsverdächtiger Position zurückgepfiffen wird, rufen ein paar Glatzköpfe: „Fußballmafia DFB!“ Irgendwie muss das alles in dieser Saison doch eine große Verschwörung gegen die Hertha sein. Die vielen nicht gegebenen Tore, die seltsamen Gegentore und jetzt auch noch die gesperrte Ostkurve.

In der zweiten Halbzeit läuft der gleiche Film. In der Waldbühne feuern Fans eine Leinwand an. Und im Olympiastadion stemmt sich eine Mannschaft, die die Gesänge ihrer Fans nicht hören kann, gegen den Abstieg. Als in der 73. Minute Nationalspieler Cacau die Stuttgarter in Führung schießt, wird es totenstill in der Waldbühne. Müde Blicke aus biergetrübten Augen. „Es ist so wie immer“, sagt Danni Paars, 29. „Wir spielen gut und am Ende gewinnen die Anderen.“ Die Blondine im blau-weißen Trikot steht sonst in der Ostkurve. Ja, die Strafe sei hart gewesen, auch sie fühle sich kriminalisiert. „Aber deswegen steigen wir nicht ab.“

Minuten später ist alles vorbei. Der Bildschirm verdunkelt sich, so wie der Himmel über der Waldbühne. Die Fans schleichen die Treppen gen Ausgang hoch. Nach der Niederlage hat Hertha fünf Punkte Rückstand auf den 16. Tabellenplatz, vier Spieltage vor Saisonende. Es sieht so aus, als ob ob man Bundesliga-Fußball in Berlin bald nur noch auf einem Bildschirm sehen wird.

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