Am 12. Februar veröffentlichte der Tagesspigel eine von Christoph von Marschall ins Deutsche übersetzte Erklärung 58 "führender" US-Intellektueller, die den gerechten Krieg proklamiert, bzw. ihn auf der Basis eines universalen Sittengesetzes rechtfertigen will. In derselben Zeitung reagierte Peter Schneider, aus seiner politischen Selbstentfremdung in die linke Seele sozusagen zurückgeläutert, mit moralischer Entrüstung und zieh die USA einer aufgeklärten Variante des Jihad. Daraufhin erhob in der Zeit Jörg Lau die Stimme gutmenschlicher Mäßigung, wies allerdings zu Recht darauf hin, dass die Proklamation durchaus nicht von ideologischem Chauvinismus getrieben, sondern sehr rechtschaffen darum bemüht sei, einer US-amerikanischen "Selbstverteidigung", die er vermittels eines unterschobenen "wir" auch für die des Lesers hält, den rechtsphilosophischen Brückenkopf bereitzustellen: Es werde ja in dem Text nur die "Bedingung der Möglichkeit" (Kant) eines gerechten Krieges diskutiert, und keineswegs lasse er sich als Freifahrtschein etwa für einen Krieg gegen den Irak verwenden.
Das Problem ist nun, dass Lau Recht hat, insoweit er die intentiöse Seite des Papiers im Auge hat; faktisch aber spricht für Schneiders Entrüstung zumindest die drohende Realität. Kriege verlaufen nicht sauber, und wenn zwar die 58 Autoren vom Militär die jederzeitige Achtung auch der Lebenswürde des Gegners fordern, übersehen sie sowohl die psychische als auch ökonomische Eigendynamik, die Kriegshandlungen eigen ist. Ein Soldat, der schießen muss, wenn er überleben will, darf nicht erst Gewissensfragen erörtern müssen, vor allem nicht, wenn auch sein Gegner das nicht tut. Sonst ist er noch vorm Fragepronomen verstümmelt oder tot. Allein schon aus diesem Grund hat die unbedingte Befehlsstruktur der Armeen ihren Sinn: Der Soldat muss aus Gründen seiner Handlungsfähigkeit die eigene Gewissenswürde den Händen seiner Vorgesetzten überantworten. Dass er dennoch "Mensch" ist und ein ethisches Bewusstsein hat, muss weggedrängt werden, zumal über die permanente Existenzbedrohung hinaus jeder militärische Apparat, der funktionieren will, Selbstentscheidungen aufs schärfste ahndet. Dass sich aber die Wiederkehr eines Verdrängten nahezu immer in eine Widerkehr verwandelt, weiß man nicht erst seit My Lai. "Ich will wissen, was das ist: Seele", ruft bei Grimmelshausen ein Landsknecht, der wütend das Gesicht eines Bauern zertrampelt. Nichts beschreibt besser, was Krieg ist und dass jedes Kriegsrecht, insofern es dem Gegner Würde zugesteht, hoffnungslos Papier bleiben muss.
Unter anderem hier liegt eines der Probleme der Proklamation. Denn ob man will oder nicht, handelt es sich letztlich um Glaubensartikel, die morallogisch keine triftigeren Gründe haben als Osama bin Ladens Heiliger Krieg. Tatsächlich unterstreicht und betont der Text kaum etwas so nachdrücklich wie der Autoren "we believe". Dass genau dies für ein universales Sittengesetz nicht taugt, hatte bereits Kant herausgearbeitet und eben darum den berühmten moralischen Imperativ rein formal gefasst, woraufhin er sich, um ihn mit Fleisch zu füllen, zu einem Postulat Gottes genötigt sah. Postulat heißt aber gerade nicht, dass es Gott gibt, sondern dass das Sittengesetz einer übergeordneten Instanz bedarf, die man unabhängig von ihrer Existenz oder Nicht-Existenz setzen muss. Wie problematisch so etwas für die politische Praxis ist, wurde unter anderem von Schiller äußerst scharf kritisiert.
In einer notwendigerweise politisch säkularisierten, weil widersprechendste Glaubensrichtungen vereinenden Weltgemeinschaft sind auch die Menschenrechte solche Postulate. Sie sind eben nicht, als was die 58 Autoren sie hinstellen, Wahrheiten, und für sie haftbar gemacht werden können auch nur diejenigen Nationen, die sie unterzeichnet, also sie ihrerseits proklamiert, das heißt gesetzt haben. Das ist für einen Teil der islamischen Staaten nicht der Fall, was die USA durchaus nicht davon abhält, mit ihm verbündet zu sein oder Handel mit ihm zu treiben. Insofern klingt angesichts eines beschworenen "gerechten" Krieges die vom Übersetzer Marschall ziemlich interessant gekürzte Conclusion des US-amerikanischen Originals je nach Perspektive haarsträubend naiv, ja fast nach Art eines Broadway-Musicals kitschig - oder erschreckend zynisch. Das macht Schneiders Entrüstung mehr als verständlich: We wish especially to reach out to our brothers and sisters in Muslim societies. We say to you forthrightly: We are not enemies, but friends. We must not be enemies. We have so much in common. There is so much that we must do together. Your human dignity, no less than ours - your rights and opportunities for a good life, no less than ours - are what we believe we´re fighting for. Was soll das heißen? "Wir, die wir euch nieder bomben werden, sind eure Freunde und zerfetzen eure Säuglinge mit unseren Streugranaten zu eurem eigenen Besten"? Und damit der vermeintliche Zivilgegner, der wohlgemerkt in der arabischen Welt meist aus allereinfachsten, noch tief in feudale Strukturen und unmittelbare Naturzusammenhänge eingebetteten Menschen besteht, qua Selbstanzeige um alles argumentierende Material betrogen wird, geben die Autoren zu: We know that, for some of you, mistrust of us is high, and we know that we Americans are partly responsible for that mistrust. But we must not be enemies. In hope, we wish to join with you and all people of good will to build a just and lasting place. Für wen bitte kann das geschrieben sein, wenn nicht für den westlichen Kritiker US-amerikanischer Kriegspläne? Was die 58 Intellektuellen außerdem übersehen oder übersehen wollen, ist die historische "Ungleichzeitigkeit" (Bloch) der hier zum Krieg antretenden Staaten, bzw. Sippen oder Interessenverbände. Wenn Jörg Lau, Michael Walzer zitierend, den Jihad als "Antwort nicht nur auf die Moderne, sondern auch auf das radikale Versagen der islamischen Welt, sich selbst zu modernisieren" sieht, so ist das eine Form kulturimperialistischer Geschichtsbetrachtung, die Faktoren wie historische, also auch psychische Entwicklungszeiten willentlich außer Betracht lässt; einmal ganz davon abgesehen, dass die abendländische Geschichte ungesagt zur Norm gemacht und der westliche Standard als notwendiges Geschichtsergebnis hingestellt, also noch einmal der ziemlich fragwürdige marxsche Historische Determinismus bemüht wird, wenn nun auch von libertärer Seite. Denn "asiatische" Philosophie geht von einer ganz anderen Welterfahrung aus, die eben nicht aristotelisch extravertiert ist, sondern gerade die Auflösung dessen anstrebt, was die westlichen Staaten politisch konstituierte: Der Unterschied von Subjekt und Objekt gilt als Schein und wird als solcher auch empfunden. "Wo beginne ich und wo höre ich auf?" fragte mich, wobei sie meine Schulter als ihre eigene berührte, meiner Frau indische Cousine, die am Agra College lehrt, also zweifelsfrei selbst eine Intellektuelle ist.
Der Konflikt der nunmehr aufeinanderstoßenden Weltentwürfe ist, nebenbei bemerkt, keiner, den die "islamistische" (islamistic) Welt erzeugt hat; die wäre möglicherweise ganz gerne bei sich geblieben. Vielmehr ist er ein Ergebnis der Globalisierung, welche die kapitalistische, von Subjekt-Objekt-Konstruktionen vollständig abhängige Wachstums-Ökonomie betreibt und die den aus westlicher Sicht "historisch ungleichzeitig" lebenden Sippenverbänden aufgezwungen wird. Der ihnen sicher unbewusste moralische Größenwahn, den die 58 in ihrem Papier notfalls auch kriegerisch realisieren lassen wollen, zeigt sich eben bereits in den Begriffen: Die Proklamation der Menschenrechte in der UN-Charta als "universale Wahrheiten" auszugeben, die doch ganz wie der kantische Gottesbegriff nichts sein können als zwar notwendige, letztlich aber formale (regulative) Postulate, setzt nicht nur historische Gleichzeitigkeit voraus, sondern erhebt den Anspruch auf göttliche Ausschließlichkeit, und dies quer durch den Kosmos. Was universal ist, gilt im Sternbild Canis Maior auch. Wie es dort aussieht, wissen die Autoren offenbar ebenso genau wie die Al Qaida. Schon deshalb ist der "gerechte Krieg" (just war), dem die 58 jetzt ein ethisches Fundament formulierten, morallogisch nichts anderes als der Jihad, und Peter Schneider behält Recht, jenen einen "säkularisierten heiligen Krieg" zu nennen. Dass unter Absehung aller historischen und psychologischen Ursachen von dem Gegner als dem "Bösen" gesprochen wird, tut bloß noch den Akzent hinzu und vergisst, dass es keine juristische Instanz gibt, bei der die islamistische Bewegung sich wegen erlittenen Unrechts Gehör verschaffen könnte. Gäbe es sie und wäre sie von allen Beteiligten akzeptiert - es sind nicht zuletzt die USA selbst, die sich einer übernationalen Gerichtsbarkeit nicht unterstellen wollen - sähe die Angelegenheit anders aus. So indessen hat nicht einmal die deutliche Verletzung des von den USA anerkannten und durch die 58 ständig beschworenen Völkerrechts, die ihren Ausdruck in der planmäßigen Zerstörung infrastruktureller Einrichtungen während des Golfkriegs fand und zu einem unabsehbaren Elend der irakischen Zivilbevölkerung geführt hat, bis heute geahndet werden können. Überdies ist, kriegsstrategisch betrachtet, von einer technologisch weit unterlegenen Partei schwerlich zu erwarten, sie werde sich an die von ihrem Gegner aufgestellten Vernichtungsregeln halten; täte sie dies, sie würde von vornherein verlieren, müsste also ihr Streben nach in ihrem Sinn verstandener politischer Gerechtigkeit suizidal im Keim ersticken. Genau deshalb wird ein Krieg der politischen Systeme, die letztendlich Psychosysteme sind, im 21. Jahrhundert als Partisanenkrieg geführt werden; denn nur in einem solchen - das haben die furchtbaren Ereignisse vom 11. September deutlichst vor aller Augen geführt - ist auch Goliath verletzlich. Wie sehr, zeigt unter anderem dieses Papier der 58 US-Intellektuellen: Osama bin Laden hat die angebliche Unverwundbarkeit der USA ent-täuscht. Es brauchte ein paar Tage, bis das Trauma virulent wurde. Nun entlädt es sich, und zwar um so mehr, als der Wunsch nach Vergeltung unerfüllt blieb. Tatsächlich kann der Afghanistankrieg nicht als gewonnen betrachtet werden, da ja sein eigentlicher Anlass nicht etwa der Sturz einer moralisch entsetzlichen Diktatur war, sondern der Wille, des tatsächlich oder vermeintlich Schuldigen an dem massenmörderischen Akt des 11. Septembers habhaft zu werden. Dieses eigentliche Kriegsziel wurde nicht erreicht. Insofern muss man sogar von einer Niederlage sprechen: Osama bin Laden entkam, ob tot, ob lebendig, so oder so. Diese auch und vor allem gegenüber der Weltöffentlichkeit verdrängte Schmach nährt das unbewusste Trauma noch, deshalb muss man ein neues Kriegsziel finden, das sich auch erreichen lässt. Ganz folgerichtig werden jetzt, als Kompensation des verletzten Narzissmus, Allmachtsfantasien mit "universalen Wahrheiten" gefüttert. Statt dessen wäre Relativierung erfordert und möglicherweise auch das Eingeständnis, dass man machtlos sei, da gegenwärtig "mit universalem Recht" tatsächlich niemand handeln kann. Moralisch freilich genauso vage fundiert, lässt sich einer just war theory, die, wie die 58 konzedieren, Zivilopfer als unbeabsichtigt, doch vorhersehbar (unintended, but foreseeable) in Kauf nimmt, sehr wohl eine Theorie des Guerillakampfes entgegensetzen, zumal es höchst fraglich ist, ob terroristischen Aktionen mehr Privatpersonen zum Opfer fallen als Kriegseinsätzen. "Rechtgläubig" jedenfalls sind beide Seiten, dogmatisch-monotheistisch ist die eine, teleologisch-geschichtsgläubig die andere, und jede Partei bestreitet dem Gegner seinen Gott. Die 58 formulieren das, überaus glaubensgewiss, so: Non of us believe (!) that God ever instructs some of us to kill or conquer others of us. Dumm nur, dass göttlicher Ratschluss unergründlich ist; dafür lassen sich aus Thora, Apokalypse und Koran Belege hundertfach zitieren, nur dass "die Bösen" jeweils andere sind. Schon deshalb wird sich allenfalls fern jeder theologischen Einlassung - letztlich also formal - eine Konfliktlösung finden lassen. Eventuell aber auch nicht. Sich dieser pessimistischen Möglichkeit zu stellen, bedeutet für Individuum wie Nation, erwachsen zu werden, nämlich Kränkungen als Ambivalenzen ertragen zu können. Das Trauma aber will die Regression seines Trägers, - im Fall der 58 hat es zu einer morallogischen Argumentation geführt, die in keinem philosophischen Hauptseminar einer Hausarbeit für wert erachtet würde. Denn damit werden auch die US-Amerikaner leben lernen müssen: dass je schärfer jemand denkt, er um so schlechter handeln kann.
Alban Nikolai Herbst wurde 1955 in Refrath geboren, studierte Philosophie, arbeitete als Broker und lebt heute als Schriftsteller in Berlin. Für seinen Roman Wolpertinger und das Blau wurde er 1995 mit dem Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet. Für den ersten Band der Trilogie Kybernetischer Romane: Thetis. Anderswelt (1998) erhielt er den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar. Zuletzt erschienen die Romane In New York. Manhattan (2000) und Buenos Aires. Anderswelt (2001).
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