Warum Sozialismus?

Sozialforum IV Weil der Kapitalismus das Eigentum konzentriert und das soziale Bewusstsein der Bürger lähmt

Der Text "Why Socialism?", den wir in Auszügen dokumentieren, wurde 1949 in der ersten Ausgabe der US-Zeitschrift Monthly Review veröffentlicht. Er liest sich wie ein aktueller Kommentar zur Kapitalismus-Debatte.

Die Zeiten, in denen Individuen oder relativ kleine Gruppen völlig autark sein konnten - und die zurückblickend so idyllisch erscheinen - sind unwiderruflich vorbei. Es ist nur eine leichte Übertreibung zu behaupten, dass die Menschheit jetzt sogar eine weltweite Gemeinschaft in Bezug auf Produktion und Verbrauch bildet ... Der Einzelne ist sich seiner Abhängigkeit von der Gesellschaft bewusster als je zuvor. Aber er erfährt diese Abhängigkeit nicht als etwas Positives, Organisches, als Schutzgewalt, sondern eher als eine Bedrohung seiner naturgegebenen Rechte - oder sogar seiner ökonomischen Existenz. Außerdem ist seine Stellung in der Gesellschaft so, dass die egoistischen Triebe ständig hervorgehoben, während die sozialen Triebe, die er von Natur aus hat, schwächer werden und immer mehr verkümmern. Alle Menschen leiden unter diesem Prozess der Verschlechterung - ganz gleich, welche Stellung sie in der Gesellschaft innehaben ...

Privates Kapital tendiert dazu, in wenigen Händen konzentriert zu werden - teils aufgrund der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten und teils, weil die technologische Entwicklung und die wachsende Arbeitsteilung die Entstehung von größeren Einheiten auf Kosten der kleineren vorantreiben. Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist eine Oligarchie von privatem Kapital, dessen enorme Kraft nicht einmal von einer demokratisch organisierten politischen Gesellschaft überprüft werden kann. Dies ist so, da die Mitglieder der gesetzgebenden Organe von politischen Parteien ausgewählt sind, die im Wesentlichen von Privatkapitalisten finanziert oder anderweitig beeinflusst werden und in der Praxis die Wähler von der Legislative trennen. Die Folge ist, dass die "Volksvertreter" die Interessen der unterprivilegierten Schicht der Bevölkerung nicht ausreichend schützen. Außerdem kontrollieren unter den vorhandenen Bedingungen die Privatkapitalisten zwangsläufig direkt oder indirekt die Hauptinformationsquellen (Presse, Radio, Bildung). Es ist deshalb äußerst schwierig und - für den einzelnen Bürger in den meisten Fällen fast unmöglich - objektive Schlüsse zu ziehen und in intelligenter Weise Gebrauch von seinen politischen Rechten zu machen ...

Die Produktion ist für den Profit da - nicht für den Bedarf. Es gibt keine Vorsorge dafür, dass all jene, die fähig und bereit sind zu arbeiten, immer Arbeit finden können. Es gibt fast immer ein "Heer von Arbeitslosen". Der Arbeiter lebt dauernd in der Angst, seinen Job zu verlieren. Da arbeitslose und schlecht bezahlte Arbeiter keinen profitablen Markt darstellen, ist die Warenproduktion beschränkt und große Not die Folge. Technologischer Fortschritt führt häufig zu mehr Arbeitslosigkeit statt zu einer Milderung der Last der Arbeit für alle. Das Gewinnmotiv ist in Verbindung mit der kapitalistischen Konkurrenz für Instabilität in der Akkumulation und in der Verwendung des Kapitals verantwortlich, und dies bedeutet zunehmende Depressionen. Unbegrenzte Konkurrenz führt zu einer riesigen Verschwendung von Arbeit und zur Lähmung des sozialen Bewusstseins von Individuen ...

Diese Lähmung der Einzelnen halte ich für das größte Übel des Kapitalismus. Unser ganzes Bildungssystem leidet darunter. Dem Studenten wird ein übertriebenes Konkurrenzstreben eingetrichtert, und er wird dazu ausgebildet, raffgierigen Erfolg als Vorbereitung für seine künftige Karriere anzusehen.

Ich bin davon überzeugt, dass es nur einen Weg gibt, dieses Übel loszuwerden, nämlich den, ein sozialistisches Wirtschaftssystem zu etablieren, begleitet von einem Bildungssystem, das sich an sozialen Zielsetzungen orientiert. In solch einer Wirtschaft gehören die Produktionsmittel der Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant. Eine Planwirtschaft, die die Produktion auf den Bedarf der Gemeinschaft einstellt, würde die durchzuführende Arbeit unter all denjenigen verteilen, die in der Lage sind zu arbeiten, und sie würde jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind einen Lebensunterhalt garantieren. Die Bildung hätte zum Ziel, dass die Individuen zusätzlich zur Förderung ihrer eigenen angeborenen Fähigkeiten einen Verantwortungssinn für die Mitmenschen entwickeln anstelle der Verherrlichung von Macht und Erfolg in unserer gegenwärtigen Gesellschaft.

Dennoch ist es notwendig, klar festzuhalten, dass eine Planwirtschaft noch kein Sozialismus ist. Eine Planwirtschaft als solche kann mit der totalen Versklavung des Individuums einhergehen. Sozialismus erfordert daher die Lösung einiger äußerst schwieriger sozio-politischer Probleme: Wie ist es angesichts weitreichender Zentralisierung politischer und ökonomischer Kräfte möglich, eine Bürokratie daran zu hindern, allmächtig und maßlos zu werden? Wie können die Rechte des Einzelnen geschützt und dadurch ein demokratisches Gegengewicht zur Bürokratie gesichert werden? In unserem Zeitalter des Wandels ist Klarheit über die Ziele und Probleme des Sozialismus von größter Bedeutung.


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