Was die SPD dieser Tage erlebt, ist mit „Achterbahnfahrt der Gefühle“ noch untertrieben beschrieben. Eben noch auf Wolke sieben, befindet sie sich jetzt schon wieder auf rasender Talfahrt. Dabei schien die Fahrtrichtung eigentlich klar: Martin Schulz als der „kleine Mann aus Würselen bei Aachen“ – und gerade nicht als der ehemalige EU-Parlamentschef – sollte den lange ersehnten Retter der deutschen Sozialdemokratie geben und die kleine Frau wie den kleinen Mann endlich für die SPD zurückerobern. Wie ein Messias wurde er von den Genossen gefeiert, wie eine neue „Lichtgestalt“ von den Medien präsentiert – und auf dem SPD-Parteitag mit 100 Prozent Zustimmung förmlich gesalbt.
Die Erwartungen waren grenzenlos, und Schulz tat ein Übriges, um sie weiter anzuheizen. „Ich glaube, dass dieses Ergebnis der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramtes ist“, lautete sein vollmundiges Versprechen nach seiner grandiosen Kür zum Vorsitzenden der SPD.
Doch Tempi passati. Obwohl es keine zwei Monate zurückliegt, ist all das heute schon Schnee von gestern, nach zwei schweren Niederlagen im Saarland und in Schleswig-Holstein. Zumal mit der „kleinen Bundestagswahl“ in Nordrhein-Westfalen bereits der finale Absturz droht. Ist der Schulz-Hype also endgültig vorbei?
Fest steht: Der Schulz-Fahrplan ging ziemlich daneben. Dabei war die Strategie vermeintlich so plausibel: Erst sollte die Saarlandwahl gewonnen werden, am liebsten mit einer neuen rot-roten Koalition, dann sollten die bereits fest eingepreisten Siege in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen den Auftakt für die eigentliche Wahlkampfphase bedeuten.
Doch bereits mit der Saarlandwahl kam der Einbruch. Denn faktisch mobilisierte die Aussicht auf Rot-Rot nicht die Wählerinnen und Wähler der SPD, sondern die der Union. Und kaum stiegen Merkels Umfragewerte wieder an, waren auch die alten Zweifel der SPD-Spitze zurück. Danach war von Siegesgewissheit und Stehvermögen keine Rede mehr, im Gegenteil: Erst blinkte Martin Schulz vehement in Richtung Ampel. Danach wirkte er wie abgetaucht, über Wochen war nichts mehr von ihm zu sehen – bis zum Desaster an der Ostsee, wo er ein zweites Mal den Verlierer geben musste. So aber ist inzwischen auch ikonografisch aus dem jubelnden Erlöser in den Medien längst der schmerzverzerrte Leidensmann geworden.
Die Macht des Amts
Dabei waren in Schleswig-Holstein in erster Linie hausgemachte Probleme für das Scheitern der SPD verantwortlich, insbesondere das Unvermögen Torsten Albigs, in den vergangenen fünf Jahren zum Landesvater zu reifen und so den Bonus als Amtsinhaber einzufahren. Allerdings spielte auch die offensichtliche Strategielosigkeit des Schulz-Lagers eine maßgebliche Rolle. Viel spricht in der Tat dafür, dass bereits in den Wochen nach der Saarlandwahl die entscheidenden Fehler begangen und die kommenden Wahlen verloren wurden.
Schon der panische Rückzug von Rot-Rot-Grün und die hastige Hinwendung zur Ampel waren für den linken Teil seiner Wählerschaft verheerend – denn in der Tat wäre ein echter Politikwechsel, zumal unter dem Vorzeichen der Gerechtigkeit, mit der neoliberal orientierten Lindner-FDP wohl kaum zu machen. Zudem überließ Martin Schulz durch sein Abtauchen der Kanzlerin in konzeptioneller Hinsicht das Feld fast kampflos, wurden faktisch alle inhaltlichen Positionen zurückgehalten. Stattdessen konnte sogar der längst totgesagte Sigmar Gabriel als SPD-Außenminister erstaunliche Höhenflüge in den Umfragewerten feiern und mit seinen soeben erschienenen Neuvermessungen die außenpolitische Agenda der SPD definieren.
Der überraschende Erfolg von Gabriel ist jedoch weit mehr als eine bloße Momentaufnahme, vielmehr für die Schulz-SPD fatal, kann er doch als Beleg dafür dienen, worauf es in diesem Wahljahr letztlich entscheidend ankommen dürfte – nämlich auf die schiere Macht des Regierungsamtes. Der Grund dafür: Wir befinden uns in Zeiten massiver internationaler Unsicherheiten, also in klassischen Zeiten der Exekutive. Das heißt, alles fokussiert sich noch weit mehr als zuvor auf die „Weltkanzlerin“ und mächtigste Frau Europas, Angela Merkel.
Schon in wenigen Tagen wird sie sich im Glanze ihres neuen Kollegen Emmanuel Macron sonnen können und die neue deutsch-französische Freundschaft beschwören. Martin Schulz dagegen, der vor der Saarlandwahl bewusst vom mächtigen EU-Parlamentspräsidenten zum kleinen Mann von nebenan mutierte, droht daneben völlig unterzugehen, selbst wenn Macron ihn zweifellos ebenfalls mit einem Besuch beehren wird.
Anfangs sah es so aus, als könne Schulz gegen Angela Merkel gerade als Underdog aus der Opposition heraus punkten. Doch inzwischen entpuppt sich der vermeintliche Vorteil als Nachteil, erlebt die SPD auch da eine erstaunliche Desillusionierung: Offensichtlich zieht die Frage der Sicherheit – nationaler wie internationaler Art – gegenwärtig mehr als das Thema der sozialen Gerechtigkeit. Und den Posten der Sicherheit und Kontinuität besetzt eben klassischerweise die Amtsinhaberin, zumal dann, wenn sie bereits bald zwölf Jahre in Amt und Würden ist. „Keine Experimente, Merkel wählen“, wird die Wahlkampf-Strategie der Union daher lauten – ganz im Sinne ihres Vorvorgängers, des ewigen Kanzlers Konrad Adenauer. Und auch wenn Martin Schulz mit seiner Gerechtigkeitsoffensive dagegenhält: Merkel dürfte in diesem Wettstreit die stärkeren Bataillone haben.
Auch dafür ist der Erfolg von Sigmar Gabriel der beste Beleg: Wenn selbst der Mann, der als Merkels Herausforderer keinen Stich machen konnte, als Außenminister massiv an Ansehen zulegt, dann zeigt dies nicht nur seine überraschende Begabung für dieses Amt, sondern auch, dass momentan jeder entscheidend im Vorteil ist, der über ein Regierungsamt von internationaler Bedeutung verfügt. Damit steht die Schulz-SPD übrigens keineswegs allein, siehe Großbritannien: Dort ist die hochzerstrittene oppositionelle Labour Party unter Jeremy Corbyn so schwach, dass die regierenden Konservativen um Theresa May vorgezogene Neuwahlen riskieren können.
Zwischen den Stühlen
Martin Schulz droht, damit zum Opfer seiner eigenen strategischen Fehlentscheidung zu werden. Viel spricht dafür, dass er die von ihm erstrebte – und für seine Wahlchancen entscheidende – Augenhöhe zur Kanzlerin weit eher als Außenminister hätte herstellen können. Nun aber, ohne echtes Amt, befindet sich Schulz in einem weiteren Dilemma. Entweder gibt er weiterhin den kleinen Mann oder aber er präsentiert sich als Mann von Welt und ehemaliger EU-Parlamentschef, der bereits mit allen Staats- und Regierungschef Europas auf Augenhöhe konferierte. Damit aber stünde er in der Öffentlichkeit wieder vor allem für „Brüssel“ bzw. „Straßburg“ – also für eine Europäische Union, die in diesem Wahlkampf nicht unbedingt ein Zugpferd zu sein verspricht.
So sitzt Martin Schulz weiter zwischen allen Stühlen, hochgradig verunsichert und offensichtlich unfähig, sich für eine überzeugende Strategie zu entscheiden und diese auch wirklich durchzuhalten. Auf diese Weise aber könnte er die Bundestagswahl bereits verloren haben, bevor der Wahlkampf richtig beginnt. Schon am nächsten Sonntag könnten wir es wissen. Dann wird in Nordrhein-Westfalen das Urteil gefällt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.