Wenn in der existenziell-sten Krise einer Partei in ihrer Geschichte deren Generalsekretär und Hoffnungsträger die Brocken hinschmeißt, um eine „neue Dynamik“ freizusetzen, ist das eine Katastrophe. Wenn daraufhin sein designierter Nachfolger den Parteivorsitzenden einen „Wegmoderierer“ ohne „Kämpfernatur“ nennt, grenzt das an Harakiri. Und wenn anschließend – exakt zum Zeitpunkt der programmatischen Rede des unglücklichen Vorsitzenden – eine Landtagsfraktion dieser Partei aus Unfähigkeit implodiert und daraufhin ihre Koalition platzt, dann wird aus der „neuen Dynamik“ endgültig ein „Unternehmen Kamikaze“ (FAS).
Das ist kurz zusammengefasst die Lage der Freien Demokratischen Partei zu Beginn des Jahres 2012, nach dem traditionellen Dreikönigstreffen samt GAU im Saarland. Wir erleben eine Partei in inhaltlicher und personeller Auflösung. „Die FDP hat als Marke generell verschissen“ – so brachte der für seine direkte Aussprache bekannte schleswig-holsteinische Fraktionsvorsitzende Wolfgang Kubicki die Lage der Partei unlängst auf den Punkt.
Damit erntet die FDP nun jene Früchte, die sie ab der Wende von 1982 (von der SPD zur CDU) und forciert in den vergangenen zehn Jahren gesät hat. Tatsächlich wurde in der Ära Westerwelle aus einem zeitweilig auch theoretisch ambitionierten Projekt schlichter „Vulgärliberalismus“ der neoliberalen Staats- und Steuerfeinde. Während der Genscherismus stets vage blieb, da er auf Anschlussfähigkeit in alle Richtungen bedacht war, setzte Westerwelle auf ein scharfes neoliberales Profil – mit einem einzigen nennenswerten Punkt: der Forderung nach radikalen Steuersenkungen.
Erstaunlicher Verfall
Die Folgen dieser geistigen Verarmung holen die Partei jetzt endgültig ein. Wenn sich FDP nicht einmal mehr auf spöttische „Fast drei Prozent“ reimt, weil auch das noch geschönt wäre, stellt dies den deutschen Parteiliberalismus insgesamt in Frage.
Das ist ein erstaunlicher Verfall. Immerhin gehörte die FDP zu den tragenden Säulen der alten Bundesrepublik. Ja, mehr noch: Neben Sozialismus und Konservatismus ist der Liberalismus die dritte originär politische Strömung der Moderne. Von Ralf Dahrendorf als dem wohl wichtigsten deutschen Vordenker des Liberalismus der vergangenen 50 Jahre stammt das bekannte Wort vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Erleben wir nun das Ende des Liberalismus?
Als parteipolitische Strömung spricht viel dafür, allerdings keineswegs als Idee. Der Liberalismus hat sich nämlich keineswegs in Luft aufgelöst, sondern ist als Bindestrich-Liberalismus längst in andere Parteien eingewandert: Der National-Liberalismus, wichtig in den Anfangsjahren der Partei, als die FDP zeitweilig ein Sammelbecken einstiger NSDAP- und SS-Mitglieder war, wurde in der FDP bereits in den sechziger Jahren weitgehend überwunden und ist heute eher rechts von der Union beheimatet. Der daran anschließende und vor allem in der Ära Scheel dominierende Sozial-Liberalismus wanderte spätestens mit der wirtschaftsliberalen Wende der FDP zur Union Helmut Kohls im Jahre 1982 in die SPD aus. Und der bürgerrechtliche, ökolibertäre Liberalismus, der mit den neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahren entstand, fand seine Heimat ohnehin bei den Grünen. Heute schließlich sind es die Piraten, die den neuen digitalen Liberalismus für sich reklamieren.
Der durchaus ambitionierte Anspruch der FDP-Generation nach Westerwelle bestand daher von Beginn an darin, einen neuen liberalen Markenkern zu definieren und für sich zu reklamieren. Schon 2008 erschien Röslers Thesenpapier mit dem Titel „Was uns fehlt“. Darin kritisierte er die ökonomistische Verengung seiner Partei und plädierte stattdessen für einen um Begriffe wie „Solidarität“ und „Teilhabe“ erweiterten Wertekanon.
Doch von diesem neuen „Mitfühlenden Liberalismus“ ist heute keine Rede mehr. Statt dessen ist nur noch von den „Brot-und-Butter-Themen“ die Rede. Wer – gegen alle Erfahrung – erwartet hatte, Rösler werde in seiner Dreikönigsrede noch einmal versuchen, die vielen Liberalismen zu einer Theorie zusammen zu binden, wurde erneut enttäuscht. Rösler ersetzte das Monothema Steuersenkung schlicht durch Wachstum. Das, so sagte es Rösler, „ist unser Auftrag.“ Gleichzeitig entblödete sich der Vorsitzende nicht, den Club of Rome mit seiner wegweisenden Studie über die Grenzen des Wachstums von 1972 mit den Weltuntergangsphantasien der Zeugen Jehovas zu vergleichen.
Damit aber bleibt die FDP letztlich der rein ökonomistischen Linie ihres Schnäppchenjägerliberalismus treu. Immer nach der alten neoliberalen Devise: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ Mit der von Rösler beanspruchten „Neuen Bürgerlichkeit“ und einem ambitionierten Liberalismus hat das allerdings nichts mehr zu tun.
Worin Liberalismus heute bestehen könnte, lässt sich dagegen in den Schriften Dahrendorfs aus den 1970er Jahren nachlesen. Dort macht sich Dahrendorf Gedanken um eine „neue Freiheit“ – als „liberale Antwort auf eine Welt, die sich radikal verändert“. Auf die damaligen Themen – bemerkenswerterweise fast dieselben wie heute: nämlich eine dramatische ökonomische wie ökologische Krise – gibt Dahrendorf eine konzeptionelle Antwort: Um die bürgerliche Freiheit zu sichern, müssen wir von der puren ökonomischen Expansion zu einer Gesellschaft der Melioration, der Verbesserung, kommen. Dahrendorf war klar: „Wir brauchen Regeln, um sicherzustellen, dass die Ideologie des Marktes, privater Initiative und kapitalistischer Freiheit nicht missbraucht wird zur Verteidigung der unkontrollierten Macht weniger.“ Wer würde dabei heute nicht an die dramatische Krise eines völlig überhitzten Finanzkapitalismus und die Rettung der Banken denken, bei der die demokratische Mehrheit die Privilegien einer Minderheit teuer bezahlen muss?
Marx’ „moderne Liberale“
In der erforderlichen „Ökonomie des Haushaltens“ – so Dahrendorf – müssten neue Regeln eingeführt werden: „Das bedeutet natürlich Begrenzungen der Macht großer Unternehmen.“ Dahrendorf wusste noch: Ohne Regeln keine Freiheit. Ja, Dahrendorf war sogar so frei, angesichts der Krise des Kapitalismus selbst von Karl Marx zu lernen, den er in mancher Hinsicht als einen „modernen Liberalen“ begriff, „der seiner Zeit erheblich vorauseilte“.
Die FDP von heute ist von derartiger Freiheit des Denkens meilenweit entfernt. Hier läuft stattdessen alles auf die ganz alte Lösung zu, die den Namen Rainer Brüderle trägt – dem Restposten all jener, die seit der Wende 1982 die wirtschaftsliberale Verengung betrieben haben. Spätestens mit den Wahlen in Schleswig-Holstein am 6. Mai wird für Rösler die Stunde der Wahrheit schlagen. Sollte die FDP den Einzug in den Landtag verpassen, wird der Ruf nach dem starken Mann der Fraktion unüberhörbar werden. Damit aber wäre der deutsche Parteiliberalismus endgültig auf den Status der Kalauers herabgesunken.
Albrecht von Lucke, Jahrgang 1967, ist Jurist, Politologe und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik. 2009 erschien von ihm bei Wagenbach Die gefährdete Republik: Von Bonn nach Berlin
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