Weltkind in der Mitten

CDU-Parteitag Umgeben von flügelschlagenden Kontrahenten gibt sich Merkel wie ein ruhender Fels

Wie schien es die Kanzlerin doch schwer zu haben: Hatte sie just am Tag ihrer Ein-Jahresbilanz mit der Köhlerschen "Ruck"-Forderung von rechts zu kämpfen, wollte ihr keine Woche später der selbsternannte Arbeiterführer Rüttgers auf dem Parteitag in Dresden von links einheizen.

Und dabei konnte sich Merkel nicht einmal ernstlich darüber beklagen. Denn seit dem verheerenden Ausgang der Bundestagswahl wurden die gewaltigen Wahlkampffehler nicht aufgearbeitet, fehlt der Kanzlerin die eigene inhaltliche Linie. Die propagierten Radikalkuren des Leipziger Parteitages 2003 wurden klammheimlich eingemottet, statt dessen verkündet die CDU-Chefin, wie jetzt in Dresden: Lasst fahren alle Hoffnung auf den "politischen Urknall", denn "wir gehen viele kleine Schritte in die richtige Richtung".

Doch genau hier liegt das Problem: Ohne Richtung wird aus vielen kleinen Schritten noch lange kein zielbewusster Weg. Deswegen sollte es nun in Dresden zum Showdown kommen: zwischen Neoliberalen und Sozialkonservativen, zwischen Neu-Berlinern und Alt-Bonnern. Warum aber nahm Merkel, bei alledem, den Parteitag von Anfang an nur so leicht? Die Antwort ist banal: Das ganze Gehabe ihrer männlichen Provinzfürsten konnte die Kanzlerin zu keinem Zeitpunkt ernsthaft ins Schlingern bringen.

Mehr noch: Mit Dresden entpuppt sich Merkel endgültig als würdige Nachfolgerin Helmut Kohls - in ihrer taktischen Fähigkeit, die Dinge souverän auszusitzen. Wie heißt es so schön bei Goethe: "Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten." Gelassen wie ein kleiner Buddha - und ganz im Stile Kohls - ruht Angela Merkel schier in sich, derweil die sie umgebenden Eiferer um die richtige Richtung streiten.

Merkel hat die eigene Devise prompt in treffende Worte gefasst: "Flügel geben Auftrieb". Nämlich dem schwerfälligen Körper in der Mitte, der bloß regungslos in der Luft hängen muss - und doch scheinbar mühelos voran kommt. Früher hätte man gesagt: Die Arbeit machen die anderen. Und in der Tat lässt Merkel ihre Konkurrenten kräftig mit den Flügeln schlagen, da sie selbst auf diese Weise weiter ohne inhaltliches Konzept auskommt.

Den Gefallen ordentlichen Krawalls tat die rivalisierende Männerriege der Kanzlerin in Dresden allzu gern - was Merkel als moderierende Vorsitzende mit 93 Prozent ein glänzendes Ergebnis und eine Steigerung um fünf Prozent gegenüber dem Parteitag von Düsseldorf vor zwei Jahren einbrachte. Ihre schärfsten Kontrahenten und Stellvertreter Rüttgers, Wulff und Koch wurden dagegen mit Verlusten um 20 Prozent regelrecht abgestraft.

Dabei müsste sich Angela Merkel bei Jürgen Rüttgers ohnehin bedanken - erweckte er doch mit Hilfe seines Antrags geschickt den Eindruck, als gäbe es bei der Union noch ein nennenswertes soziales Gewissen. Der Mann aus Nordrhein-Westfalen gräbt auf diese Weise vor allem den Sozialdemokraten das Wasser ab. Deshalb war es ja gerade Franz Müntefering, der Merkel umgehend aufforderte, Rüttgers zur Ordnung zu rufen.

Eben diesen Gefallen tat Merkel dem Vizekanzler jedoch gerade nicht. Vielmehr - ganz Weltkind in der Mitten - wurden alle trefflich ausbalanciert: Die Wirtschaftsliberalen um Wulff und Oettinger erhielten ihre Aufhebung des Kündigungsschutzes und Rüttgers seine Änderungen beim ALG I. Denn eines ist klar: Ohne lebhaft schlagende Flügel kann sich die Kanzlerin nicht als Schlichterin der pubertären Streithansel profilieren.

Ganz im Sinne dieser Machtarithmetik dürften auch in Zukunft alle Propheten fleißig für Merkel arbeiten: Rüttgers, weil er trickreich soziale Verantwortung mimt und damit die SPD bedrängt; Oettinger, Wulff, und auch Köhler, weil sie innerhalb des Unionsflügels den neoliberalen Ruck forcieren - und damit den FDP-Flügel besetzen. Merkel dagegen behauptet auf diese Weise stets die Mitte für sich und kann als Taktikerin der Macht voll mit ihren Stärken wuchern - ohne ernsthafte Führungsaufgaben leisten zu müssen, die sie in Gefahr brächten, sich womöglich selbst die Finger zu verbrennen.

Der Parteitag von Dresden hat es bestätigt: Die Kanzlerin hat in den eigenen Reihen keinen ernsthaften Gegner mehr. Der Einzige, der ihr bedrohlich zu Leibe rücken könnte, dürfte der SPD-Chef und ihr wahrscheinlicher Herausforderer Kurt Beck sein - dem viele Menschen dank seines sozialdemokratischen Stallgeruchs und seiner Bodenständigkeit eine hohe Glaubwürdigkeit bescheinigen. Trotz, oder eher: gerade wegen seiner Neigungen für die FDP steht der Pfälzer Beck für die "gute alte Zeit" der Bonner Republik, für die angebliche Kombination von wirtschaftlichem Sachverstand und solidarischem Ausgleich. Dem rot-gewandeten, habituellen wie mundsprachlichen Widergänger Kohls wird die in der Bevölkerung nach wie vor als fremd und kalt empfundene "Frau aus dem Osten" (Stoiber) mehr als das Taktik-Repertoire des Altkanzlers entgegen setzen müssen.

Schon deshalb sollte sie ihren sozial-rhetorischen Rüttgers-Flügel immer ordentlich pflegen. Sie wird ihn noch so manches Mal zum Fliegen brauchen.


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