Aufs gute Leben

Porträt Edi Rama ist mit der vielseitigste Regierungschef der Welt. In Paris studierte er Kunst, um die Welt reiste er als Basketballprofi. Nun will er Albanien weiter öffnen
Ausgabe 44/2015

Kräftige Statur, gut zwei Meter groß, tiefe Stimme, graumelierter Dreitagebart: Der Mann ist eine Wucht. Edi Rama hat Basketball gespielt, erst für Dinamo Tirana, später für die Nationalmannschaft, er war Künstler, Bürgermeister von Tirana und ist seit zwei Jahren Ministerpräsident der Republik Albanien.

Dass sich Kunst und Politik nicht auszuschließen brauchen, hat der 51-Jährige schon in seinem Elternhaus gelernt. Sein Vater Kristaq Rama erschuf unter der stalinistischen Herrschaft Enver Hoxhas (1944 bis 1985) zahlreiche sozialistische Denkmäler und Skulpturen und war gleichzeitig Leiter des albanischen Kunstministeriums. Der Sohn lehnte sich gegen den Vater auf. Edi Rama träumte von einem anderen, freieren Albanien, studierte Malerei und beteiligte sich aktiv an den ersten Demokratiebewegungen Anfang der 1990er Jahre.

Er ging nach Paris – und kehrte später nach Albanien zurück, das nach der Hoxha-Diktatur eines der am meisten isolierten Länder der Welt war. Seit der „Wende“ 1990 ging der Modernisierungsprozess dort nur sehr schleppend voran. Wegen der weitverbreiteten Korruption, der hohen Arbeitslosigkeit und einer schwachen Infrastruktur emigrierten Hunderttausende Albaner in den Folgejahren in die Europäische Union oder in die USA.

Ende der 1990er Jahre berief der neue sozialistische Ministerpräsident Fatos Nano den Künstler zum Minister für Kultur, Jugend und Sport. Bald darauf wurde Edi Rama so etwas wie der erste grüne Politiker des Balkans. Als Bürgermeister von Tirana, ein Amt, das er von 2000 bis 2011 innehatte, ließ er illegale Bauten abreißen, öffentliche Parks anlegen und die Häuser der Innenstadt bunt anmalen. Für sein Projekt Clean and Green wurde er von den Vereinten Nationen ausgezeichnet und 2004 von der City Mayor Foundation zum Weltbürgermeister des Jahres ernannt.

Seit 2005 ist Edi Rama Vorsitzender der Sozialistischen Partei Albaniens und seit 2013 der Regierungschef der Republik Albanien. Sein Land ist seit 2014 ein offizieller Beitrittskandidat der Europäischen Union. Ein Stolperstein auf dem Weg in die EU ist der ungeklärte Status des mehrheitlich von Albanern bewohnten Kosovos. Während der Kosovo für die Serben ein Teil ihres Landes ist, sehen albanische Nationalisten darin einen Teil „Großalbaniens“. Dieser Konflikt führte vergangenes Jahr bei einem Qualifikationsspiel zur Fußball-Europameisterschaft zu einem Eklat: In der 42. Minute flog eine Drohne mit einer Flagge, die den albanischen Adler auf dem Umriss Großalbaniens zeigte, in das Belgrader Stadion. Es kam zu Tumulten und zum Spielabbruch. Serbische und albanische Politiker bezichtigten sich daraufhin gegenseitig als nationalistische Brandstifter.

Ungeachtet all der politschen Ämter und Herausforderungen hat er die Kunst jedenfalls nie aus den Augen verloren. Sein Amtszimmer in Tirana ist zugleich auch sein Atelier. Auf seinem Schreibtisch befinden sich Hunderte von Stiften, mit denen er auf den Blättern seines politischen Terminkalenders surreale Zeichnungen anfertigt. Einige dieser „Kalenderblattzeichnungen“ waren neulich in der Galerie Kampl im Münchner Gärtnerplatzviertel zu sehen. Zur Ausstellungseröffnung war Rama nach Bayern gereist, wo wir ihn zum Gespräch trafen.

der Freitag: Guten Tag, Herr Ministerpräsident. Ihr Protokollchef hat mir gerade gesagt, dass wir kaum Zeit für das Interview haben. Aus diesem Grund würde ich meinen vorbereiteten Fragenkatalog gern beiseitelassen und Ihnen einfach ein paar Stichworte geben. Mein Vorschlag wäre, dass Sie mir zu jedem Stichwort höchstens zwei oder drei Sätze sagen. Wären Sie mit dieser Form des Interviews einverstanden?

Edi Rama: Warum nicht. Gut, lassen Sie uns das probieren.

Sehr schön. Dann legen wir los. Erstes Stichwort: Mutter.

Meine Mutter?

Ja, Ihre Mutter.

Die wunderbarste Frau, die ich jemals kenenlernen durfte.

Ihr Vater?

Jemand, der andere Überzeugungen als ich hatte und mir gleichzeitig erlaubte, anders als er sein zu dürfen.

Basketball?

Im Vordergrund steht der Teamgedanke. Man braucht die Mitspieler, um erfolgreich zu sein. Diese Lehre ist auch für die Politik ungemein wichtig – denn um eine Partei oder gar ein Land zu führen, ist man auf ein gutes Team angewiesen.

Auf welcher Position haben Sie gespielt?

Aufbauspieler.

Bestes Spiel?

Als ich gegen einen viel größeren Gegenspieler die höchste Punktzahl in meiner Karriere warf. Wir spielten gegen die Türkei. Das Spiel ging übrigens verloren.

Musen in der Politik

Ähnlich wie Edi Rama war auch der 2013 gestorbene venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez ein begeisterter Maler, wenn auch kein ausgebildeter, sondern ein Freizeitkünstler. In den 90ern saß er nach einem Putschversuch gegen seinen Amtsvorgänger Rafael Caldera in Haft. Ein Bild, das er im Gefängnis malte, konnte er für 250.000 US-Dollar verkaufen. Die Renaissance-Werke von Lucas Cranach dem Jüngeren (1515–1586) sind bis heute bekannt. Er hatte als Lokalpolitiker in seiner Heimstadt Wittenberg Einfluss, als Ratsmitglied und Bürgermeister.

Musiker scheinen eine besondere Affinität zum Politgeschäft zu haben: Der Popkomponist Youssou N’Dour (Seven Seconds) ist seit 2012 als senegalesischer Minister für Kultur und Tourismus im Amt. In Brasilien war der Bossa-Nova-Held Gilberto Gil von 2003 bis 2008 Kulturminister unter Lula da Silva. Die Griechen haben ein Faible für Musikerinnen: Die Sängerin Melina Mercouri (1920–1994) war Mitglied der sozialdemokratischen Pasok-Partei und Kulturministerin; Nana Mouskouri (Weiße Rosen aus Athen) saß in den 90ern für die griechischen Christdemokraten im Europaparlament; Vicky Leandros (Theo, wir fahr’n nach Lodz) war in den Nullerjahren Stadträtin und Vizebürgermeisterin in der Hafenstadt Piräus.

Viele Politiker haben auch ernsthafte Literatur verfasst, nicht nur eitle Autobiografien. Etwa der frühere französische Premierminister Dominique de Villepin, der eine Napoleon-Biografie und Gedichte schrieb, oder der Dramatiker, Essayist und frühere tschechische Regierungschef Václav Havel (1936–2011). Pia Rauschenberger

Albanische Küche?

Richtig zubereitet, ist sie eine der geschmackvollsten der Welt.

Albanisches Lieblingsgericht?

Alles, was meine Großmutter gekocht hat.

Und Ihr Lieblingsgericht?

Die Küche meiner Großmutter war einzigartig. Da gibt es kein Besser oder Schlechter.

Albanien: korrupt, kriminell und rückständig?

Das sind wenig hilfreiche Stereotypen. Albanien ist kein dunkles, böses Land. Es ist ein sehr fröhlicher mediterraner Ort mit viel Sonnenschein, einer großen Gastfreundschaft und wunderschönen Naturlandschaften. Ebenso hat Albanien wichtige menschliche und natürliche Ressourcen zu bieten. Es hat sich in den letzten 25 Jahren vollkommen gewandelt.

Lernen von Albanien?

In unserem Land tolerieren die Menschen jede Religion. Albanien ist ein Beispiel, dass gelebte Toleranz möglich ist.

Albanische Flüchtlinge?

Eine wunderbare Ressource für alle, die sie willkommen heißen. Als Immigranten haben die Albaner bewiesen, zu was sie fähig sein können, wenn die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen stimmen.

Sind die Auswanderer nicht ein Verlust für Ihr Land?

Nein, denn die Historie hat gezeigt, dass die Immigranten dem Aufnahmeland ebenso nutzen wie den Menschen in ihrer Heimat. Aber natürlich hat unser Volk das Recht auf einen besser funktionierenden Staat, der ihm mehr Möglichkeiten als zurzeit bietet.

Nordeuropa vs. Südeuropa?

Zweifelsohne gibt es eine nordeuropäische und eine südeuropäische Mentalität. Und wir gehören zu den Südländern.

Und wo liegt der Unterschied?

Gemeinhin sagt man, dass die Deutschen leben, um zu arbeiten, und die Südländer arbeiten, um zu leben. Da steckt ein Funken Wahrheit drin. Ein Problem der Südländer ist, dass sie mit dieser lockeren Haltung auch ihre politischen Institutionen wahrnehmen und leiten. In diesem Bereich müssen wir uns noch verbessern.

Mediterran oder Balkan?

Wir sind beides.

Europa?

Ein großartiges visionäres Projekt, das allerdings momentan eine sehr schwierige Phase durchlebt.

Weshalb schwierig?

Es fehlt ein strategisches Konzept.

Inwiefern?

Ohne die Vereinigten Staaten von Europa wird jeder in diesem Kontinent zu den Verlierern gehören.

Albanien und die Westbalkan-Staaten sollten zu den Vereinigten Staaten von Europa gehören. Sie sind de facto ein Teil Europas – dass sie noch keine Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind, ist nicht nur unser Problem. Das ist auch ein Problem für Europa.

Weshalb?

Dem Gesamtkörper fehlt einfach ein Teil. So etwas ist nie gut.

Angela Merkel?

Zurzeit die einzige Person, die Europa führen kann.

Aleksandar Vučić (Ministerpräsident Serbiens)?

Ein großartiger Typ.

Serbien?

Ein sehr lieber Feind.

Kosovo?

Albanische Erde und Seele.

Die Drohne mit großalbanischer Fahne im Belgrader Stadion beim Fußballspiel gegen Serbien?

Ein schlechter und geschmackloser Spaß.

Großalbanien?

Ein überkommener Mythos aus längst vergangenen Zeiten.

Politik vs. Kunst?

Die Politik sind meine Kämpfe, die Kunst meine Wünsche und Gebete. Das vermischt sich nicht, es komplementiert sich.

Bunte Häuser in Tirana?

Das war eine Politik mit Farben. Mit Schönheit lässt sich einiges erreichen.

Weltbürgermeister 2004?

Diese Auszeichnung hat mich stolz gemacht, denn sie war eine große Anerkennung für die Fortschritte in Albanien.

Edi Ramas Farben?

Wie meinen Sie das?

Gibt es Farben, die Sie persönlich bevorzugen?

Farben sind meine Definitionen des Lebens. In diesem Sinne brauche und benutze ich alle Farben.

Künstler, die Sie besonders beeinflusst haben?

Paolo Uccello. Rembrandt. Paul Klee. Marcel Duchamp.

„Kalenderzeichnungen“?

Meine Gebete.

Ministerpräsident?

Ein großes Privileg. Als solcher gewählt zu werden, ist die höchste Auszeichnung, die man von seinem Volk bekommen kann. Gleichzeitig ist es aber auch eine schwere Last der Verantwortung.

Vatersein?

Man muss sich immer wieder sagen, dass die Tochter oder der Sohn das Recht dazu haben, einem zu widersprechen und eine andere Meinung zu vertreten.

Basketball, Kunst, Politik: Sie waren überall erfolgreich.

Wie definiert man denn Erfolg? Erfolg ist etwas sehr Relatives. Ich hoffe, dass ich ein gutes Leben führe. Das wäre für mich Erfolg.

Und Ihre Schwächen?

Ich war und bin sehr schlecht in Mathematik.

Religion?

Katholisch.

Mehr wollen Sie dazu jetzt nicht sagen?

Ja, nur katholisch.

Albanien in zehn Jahren?

In der Europäischen Union, das wäre jedenfalls die offensichtlichste Antwort. Aber ich möchte es anders probieren: Ich träume von einem Albanien, das schön ist und in dem sich die Menschen positiv entwickeln können. Gleichzeitig sehe ich dieses schöne Land mit Schwierigkeiten kämpfen – langweilig wird dieses Albanien jedenfalls nicht sein.

Edi Rama in zehn Jahren?

Das Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden. Aber wenn ich es mir aussuchen dürfte, würde ich sehr gerne in einem Atelier der Sinne und des Geschmackes leben. Ich stelle mir ein Atelier mit Künstlern, Philosophen, Designern und Köchen vor, das in einem abgelegenen kleinen Dorf liegt. Ja, das wäre mein Traum.

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