Das Quentchen Wahn

Instrumentalismus 1968 und die Erneuerung der Kritik. Zum Verhältnis von Frankfurter Schule und studentischer Protestbewegung

Michel Foucault stellte 1976 rückblickend fest, dass seit den 1960er Jahren die Dinge, die Institutionen, die Praktiken und Diskurse in einem ungeheuren Maße kritisierbar und brüchig geworden sind: die Gerichts- und Strafapparate, die Psychiatrien und die Medizin, das Geschlechterverhältnis und die Sexualität, die Familie, die Kindererziehung, die Schulen, das Militär, allgemeiner: die Normalität, die Ordnung der Dinge, die Art und Weise des Regierens der Menschen und noch allgemeiner die Rationalität, die in all dem herrscht.

"1968" symbolisiert die Radikalität einer Kritik, die auch noch die Vernunft und die Praktiken derjenigen befragt, die für Aufklärung und Emanzipation eintreten. Nach den Erfahrungen mit den autoritären Tendenzen in der sozialistischen Bewegung vor, aber vor allem nach der Revolution von 1917 konnte man nicht mehr in der naiven Einstellung die Welt verändern wollen, als sei diese ein direkt zugängliches, manipulierbares Objekt, das passiv nur auf eine einmalige, ausreichend entschlossene Handlung warte. Auch das Projekt der Emanzipation kann aus sich heraus entmündigende Praktiken hervorbringen, die Aufklärung in Despotie umschlagen. Die Aufklärung über Vernunft will nicht auf diese verzichten, sondern vorausdenkend ihre Fallstricke vermeiden helfen. Hingegen aus Angst vor den autoritären Folgen der Aufklärung sich an die anzulehnen, die es immer schon wussten und den philiströsen Rat erteilen, auf die Versuche zur Befreiung zu verzichten, heißt, hinter die Radikalität der Kritik zurückzufallen und sich selbst zu entmündigen. Die Spannung, den Widerspruch, dass auch das Projekt der Emanzipation autoritäre Momente freisetzt, muss eine soziale Bewegung aushalten - kein richtiges Leben im falschen, sozusagen. Jede Diskussion über "1968", jenes Jahr, das den Aufbruch jener radikalen Kritik symbolisiert, berührt deren Bedeutung für die weitere Entwicklung: regrediert sie oder treibt sie neue Möglichkeiten der Entunterwerfung hervor.

1984, in einer anderen Diskussion über "1968", behauptete Gerd Bergfleth, dass die Linkswende der 1960er Jahre von der zurückgekehrten, heimatlosen deutsch-jüdischen Intelligenz bewirkt worden sei, die wesentlich dazu beigetragen habe, in Deutschland ihre universale Weltbürgerlichkeit, Aufklärung, Prosemitismus zu verankern, das Nationalbewusstsein zu zerstören und nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben zu modeln. Heimatlos und emigrationssüchtig geworden, durchstreifte die westdeutsche Linke die ganze Welt: China, Kuba, Vietnam.

Alles Unsinn, besagt die heutige Diskussion über "1968" und stilisiert die Protestbewegung nicht weniger holzschnittartig und alles Emanzipatorische beiseite wischend zu einer Fortsetzung der Bewegung von ´33. Damit sei sie dem deutschen Furor gefolgt, der auf das Unbedingte, den Radikalismus des Alles oder Nichts, den neuen Menschen, die Versöhnung von Elite und Volk ziele und das Bürgerliche ablehne. Aber war es nicht das Bürgertum mit seinem elitären Selbstverständnis und Führerkult, das die nationalsozialistische Diktatur gewollt und die Masse, das alltägliche Leben des gemeinen Menschen so abgelehnt hatte, das nicht den neuen, sondern den ganz alten Menschen in Reinheit züchten wollte? Dutschke wird mit Mengele und Heydrich in einem Atemzug genannt. Die 68er-Bewegung habe an die totalitären Tendenzen des 20. Jahrhunderts angeschlossen und Massenmörder verehrt. Nach seiner Diagnose, die jene Geste radikaler Kritik aufgreift und fortsetzt, für die ´68 steht, stellt Götz Aly zu Recht die Frage, wie die zurückgekehrten jüdischen Professoren "unsere komische Bewegung" gesehen haben.

Für die damalige Öffentlichkeit ebenso wie für viele der Protestierer bestand eine enge Verbindung von Kritischer Theorie und Studentenbewegung - ein Bündnis, das sich seit Mitte der 1950er Jahre entwickelt hatte und keineswegs ohne Widersprüche war. Für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gab es nach anfänglicher Skepsis Gründe für eine engere Verbindung mit dem SDS und der späteren studentischen Protestbewegung. Die beiden Vertreter der Kritischen Theorie, aus Deutschland als Juden und Marxisten vertrieben, waren aus dem Exil nach Frankfurt nicht als Rächer zurückgekehrt. Einer Jahrtausende alten Tradition gemäß wollten sie heimkehren und Versöhnung bewirken. Sie hofften, zur Bildung einer jungen Generation beitragen zu können, die für die Erfahrungen und Ansprüche kritischen Denkens offen sein und es weiterentwickeln würde.

Nach den Erfahrungen mit der Jugendbewegung seit der Jahrhundertwende hegten sie die Befürchtung, dass diejenigen, die zu Recht nicht konformieren wollten, erneut dem Versprechen auf Authentizität auf den Leim gehen könnten. In dem ungeduldigen Wunsch nach sofortiger Herstellung eines richtigen Lebens, nach Eindeutigkeit, in der Unfähigkeit, sich in Widersprüchen zu bewegen, sahen sie eine der Gefahren, die in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine lange Tradition hatte und die Jugendbewegten am Ende zu Trägern vorherrschender Tendenzen machte: Sie hatten der den verändernden Willen auszehrenden Schwerkraft der übermächtigen Verhältnisse wenig entgegenzusetzen, und wenn es so nicht ging, also eine schnelle und radikale Veränderung, dann blieb nur das ressentimentgeladene, realitätstüchtige Einfügen in den Gang der Dinge.

Deswegen sahen sie in der Vermittlung eines reflexiven Umgangs mit Aufklärung und verändernder Praxis an Jüngere, der Fähigkeit, in Widersprüchen zu leben und zu denken eine der wichtigen Aufgaben ihrer intellektuellen Aktivitäten. Zu Recht konnten sie diese als relativ erfolgreich bewerten, denn sie waren ungemein beliebte akademische Lehrer, die Zahl der Studierenden, die sich ernsthaft mit Fragen der Gesellschaftskritik befassten, wuchs stetig. Viele von ihnen waren dem SDS verbunden, in dessen Rahmen sie sich über marxistische Theorie, avantgardistische Kunst und Film, über eine Demokratisierung der Hochschulen, antiautoritäre Erziehung und emanzipierte Wohnformen verständigten.

Die Nähe des SDS zur Kritischen Theorie hatte nicht nur diese lokale akademische Grundlage. Nach Anschlägen auf jüdische Friedhöfe Ende der 1950er Jahre setzte sich der Berliner SDS mit der Fortdauer des Antisemitismus auseinander und diskutierte mit Adorno über dessen Überlegungen zur Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit. Der SDS wurde nicht zuletzt auch wegen einer 1959 organisierten Ausstellung über die Kontinuität der Nazi-Justiz vom SPD-Vorstand verdächtigt, kommunistisch unterwandert zu sein und seine Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Dies stärkte am Ende jene Tendenz im SDS, die der Kritischen Theorie nahe stand und nun die Gelegenheit erhielt, bis in die Phase seiner Auflösung den Vorstand zu stellen.

Die Protestbewegung, in der der SDS und etliche der der Kritischen Theorie nahestehenden Studenten eine zentrale Rolle spielten, entwickelte sich seit Mitte der 1960er Jahre. Gerichtet waren die Proteste gegen die Hochschulreform, den Vietnam-Krieg, die Diktatur in Persien, in Griechenland oder den Einmarsch der Sowjets in der Tschechoslowakei. Alle diese Proteste durchzog seit Ende der 1950er Jahre die Erfahrung, in einer Gesellschaft zu leben, die die unter dem Nationalsozialismus begangenen Verbrechen zu verantworten hatte und sich dieser Verantwortung nicht oder nur zögernd stellte. Die Kontinuität der neu gegründeten Bundesrepublik mit jener Phase der deutschen Gesellschaft war ebenso erfahrbar wie deren Leugnung: der Antisemitismus und Rassismus, die autoritärstaatliche Politik, die mit der Notstandsgesetzgebung verfolgt wurde, der Antikommunismus, der bemüht wurde, der deutschen Eroberungspolitik einen seriösen Anstrich zu verleihen, und dessen Folge intellektuell als Verlust zu spüren war - die Traditionen der Gesellschaftskritik, der Arbeiterbewegung waren abgeschnitten und nur in mühsamer Erinnerungsarbeit konnten sie wieder angeeignet werden. In den Hochschulen gab es nur wenige, Wolfgang Abendroth, Leo Kofler, Ernst Bloch oder die Vertreter der Kritischen Theorie, die Kontinuität herstellten. Sie prägten die intellektuellen Interessen und Debatten unter den Studierenden. Sie waren moralische Instanzen und Vorbilder.

Getragen von Studierenden, SchülerInnen und Lehrlingen war die Protestbewegung vor allem eine Jugendbewegung mit subkulturellen Merkmalen. In ihrem Verlauf seit Mitte der 1960er Jahre wechselten die Aktiven ebenso schnell wie deren Erfahrungen und Kenntnisse. Der Protest bemühte sich, mit Selbstradikalisierung Dauer zu gewinnen und sich zu verbreitern. Die Protestbewegung ging antiautoritär auf Distanz auch zur Kritischen Theorie, diese galt vielen als konservativ, bürgerlich und zu wenig praxisorientiert. Die Vertreter der Kritischen Theorie waren auch ihrerseits nicht zimperlich in der Kritik. Horkheimer warf der Protestbewegung vor, mit der Kritik an den USA die Freiheit aufs Spiel zu setzen. Antiamerikanische Ressentiments schienen stellvertretend das offizielle Tabu zu durchbrechen, das über den fortbestehenden Antisemitismus verhängt war. Adorno sah in den Forderungen nach Praxis nichts anderes als Theoriefeindschaft: mit ihrem Aktionismus füge sich die Studentenbewegung dem bürgerlichen Instrumentalismus und schwäche die Theorie, der es ums Ganze geht; es handele sich um Pseudo-Aktivität, Betriebsamkeit, die Protestierenden lebten in einer Scheinrealität von Barrikadenbau und Guerillatechniken der Dritten Welt, Erfahrung werde versperrt, das, wovor gewarnt werde, die Barbarei, habe mit Auschwitz und Hiroshima schon längst stattgefunden. Adorno befürchtete den Umschlag des Protests in Faschismus. Es sei jenem das Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre innewohne. Aber trotz aller Kritik wollte Adorno nicht die Spießbürgerwahrheit übernehmen, derzufolge Faschismus und Kommunismus dasselbe seien. Wie die Kritische Theorie selbst habe die Studentenbewegung dazu beigetragen, den glatten Übergang zur total verwalteten Welt zu unterbrechen.

Die Kritik hat seinerzeit gelernt, die Geschichte der emanzipatorischen Praxis auf ihre autoritären Momente hin zu befragen. Doch darf die Kritik an der Kurzschlüssigkeit der Praxis jener Bewegung nicht selbst kurzschlüssig sein. Sie muss deren Widersprüche denken, die Ambivalenz ertragen und doch das Vernünftige wollen: das Herausarbeiten aus der Barbarei und den Fortschritt des Ganzen selbst.

Alle auch heute wieder aufgeworfenen Fragen waren zwischen den damaligen Akteuren schon anhängig. Alles ist bereits einigermaßen gut dokumentiert, Journalisten und Historiker müssten es sich nur anschauen. An jene Kontroversen könnte das Projekt einer Selbstaufklärung der Vernunft anknüpfen, um zu erkennen, warum autoritäre und konformistische Tendenzen sich immer wieder erneuern, selbst bei denen, die sie zu bekämpfen vorgeben - selbst unter denjenigen, die angeblich die Geschichte kritisch befragen. Doch die Geschichte lehrt wenig, sie ist ein Einsatz auf einem strategischen Feld, in dem die Verblödung obsiegen will. Trotz ihres Ansehens waren leider weder Foucault noch Adorno besonders erfolgreich in der Unterweisung, in Widersprüchen zu denken. Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.

Alex Demirovic, geboren 1952 in Darmstadt, lehrt derzeit Politikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. 1992 habilitierte er mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung zur Bedeutung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule in Wissenschaft, Politik und Kultur in der Nachkriegszeit Deutschlands. Zuletzt erschien von ihm 2007 im Verlag Westfälisches Dampfboot der Band: Demokratie in der Wirtschaft. Positionen, Probleme, Perspektiven

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