Zwischen Sühne und Farce

Kambodscha Kurz vor dem Prozess gegen vier Galionsfiguren des 1979 gestürzten Pol-Pot-Regimes ist am Internationalen Tribunal heftiger Streit um weitere Anklagen entbrannt

Ein Konflikt zwischen Zivilklägern und Untersuchungsrichtern beschäftigt derzeit das Kambodscha-Tribunal in der Nähe von Phnom Penh. Gestritten wird ausgerechnet vor der lange verzögerten Verhandlung gegen vier Führungskader der 1979 gestürzten Khmer Rouge – den einstigen Staatschef Khieu Samphan, Ex-Außenminister Ieng Sary, den Chefideologen Nuon Chea und Ieng Tirith, die Ehefrau Ieng Sarys und ehemalige Sozialministerin. Sind die Turbulenzen Zufall oder Absicht?

Besonders der deutsche Untersuchungsrichter Siegfried Blunk sieht keine Klageberechtigung für die kambodschanische Rechtsanwältin Theary Seng, die im Demokratischen Kampuchea – wie der Pol-Pot-Staat zwischen 1975 und 1979 hieß – ihre Eltern verlor. Gleiches macht Blunk auch gegen den Australier Rob Hamill geltend, der Sühne für seinen im Lager Tuol Sleng ermordeten Bruder Kerry fordert.

Das Internationale Kambodscha-Tribunal (s. Glossar) verhandelt seit 2006, nachdem jahrelang darüber gestritten wurde, ob es einen solchen Gerichtshof überhaupt geben sollte. Die USA und China fürchteten, es könnte einmal mehr ruchbar werden, wie sie in die Machtübernahme der Roten Khmer im April 1975 und deren Machterhalt verstrickt waren. Die Vereinten Nationen verneinten bis 1999 jede Teilnahme kambodschanischer Richter – die Regierung in Phnom Penh fürchtete um Versöhnung und inneren Frieden, sollte an die schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts in Südostasien erinnert werden.

Welcher Kompromiss gefunden wurde, lässt sich schon der Bezeichnung des Tribunals entnehmen. Der Name Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC) zeigt an: Es wird vorrangig nach kambodschanischem Recht prozessiert, es sind kambodschanische Juristen beteiligt, es gibt keine Prozesse außerhalb Kambodschas. Beauftragt ist das Tribunal, Verbrechen zu ahnden, die während des Regimes der Khmer Rouge zum Tod von etwa 1,7 Millionen Menschen (einem Viertel der Bevölkerung) geführt haben – es geht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, Zwangsdeportationen und Zwangsarbeit, Folter und Massenhinrichtungen – kurz gesagt: um Völkermord.

Dennoch gibt es kein „zweites Nürnberg“ in Kambodscha. Der erste Prozess vor den ECCC begann mehr als 31 Jahre nach dem Sturz der Roten Khmer. Kaing Guek Eav („Duch“), ehemaliger Kommandeur des Folterlagers Tuol Sleng, saß 2010 als erster Angeklagter vor den Richtern der ECCC und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Misshandelt und erschlagen

Überfällig sind die Verfahren gegen Kaing Guek Eavs politische Auftraggeber: Gegen Khieu Samphan („Ich war nie mehr als ein einfacher Mann, der versuchte, für sein Land seine Pflicht zu tun“), gegen Ieng Sary („Wir zögerten nicht, für eine unseren Anschauungen entsprechende Gesellschaft Millionen Menschen zu opfern“), Nuon Chea („Lasst Vergangenes vergangen sein“) und Ieng Tirith, außer Sozialministerin auch die Shakespeare-Expertin der ultramaoistischen Fanatiker („Wir brauchen die ältere Generation nicht mehr, weil sie ihr Denken nicht ändern kann“). Die Hauptverhandlung soll im Sommer beginnen – wann genau, ist offen.

2007 wurde bei den ECCC die so genannten Victims Unit und damit das Recht von Nebenklägern (civil parties) etabliert, eigenständig Klage einreichen und dabei die gleichen Rechte wie Staatsanwälte oder Verteidiger beanspruchen zu können. In dieser Form hat es Victims Unit bisher noch vor keinem internationalen Gericht gegeben. Doch wird diese Praxis vom juristischen Personal der ECCC nicht mit Hingabe geliebt. Finanziell unterstützt werden die civil parties vorzugsweise durch die Bundesrepublik Deutschland.

Zurück zu Theary Seng und Rob Hamill, die beide als Nebenkläger anerkannt sind, schon im Verfahren gegen Folterchef „Duch“ ausgesagt haben, aber nun verlangen, dass weitere Anklagen erhoben werden. Zwar erlaubt der zwischen Kambodscha und der UNO geschlossene ECCC-Vertrag, außer den jetzigen Angeklagten weitere Gefolgsleute Pol Pots zu belangen. Nur lehnt die Regierung unter Premier Hun Sen (vor seiner Flucht nach Vietnam bis 1977 Offizier der Khmer Rouge) weitere Prozesse ab. Begründung – andernfalls drohe dem Land ein Bürgerkrieg.

Theary Seng lässt sich nicht beirren. Sie will den ehemaligen Marine-Chef Meas Muth, den Oberkommandierenden der Luftwaffe, Sou Met, sowie die Parteisekretäre Im Chaem, Ta An und Ta Tith auf der Anklagebank sehen. Und sie drängt darauf, UN-Administrator Knut Rosenburg sowie Untersuchungsrichter Siegfried Blunk abzulösen. Der wiederum droht den Staatsanwälten, die für weitere Klagen immer offen sind, er werde gegen sie wegen Missachtung des Gerichts vorgehen.

Im einzelnen geht es um folgende Tatbestände: Die Exekution des Vaters von Theary Seng, der als Offizier der Lon-Nol-Armee 1975 erschossen wurde, und den Tod der Mutter in einem Konzentrationslager. Nebenkläger Rob Hamill will den Mord an seinem Bruder Kerry geahndet wissen, der im August 1978 mit seiner Segeljacht Foxy Lady vor der Insel Koh Tang Island nahe der kambodschanischen Küste unterwegs war. Zu seiner Crew gehörten der Brite John Dewhirst als zahlender Passagier und der Kanadier Stuart Glass als Co-Eigner. Ein Sturmboot der Khmer Rouge enterte das Schiff. Stuart Glass wurde sofort erschossen, während Hamill und Dewhirst als mutmaßliche CIA-Spione ins Camp Tuol Sleng kamen, dort misshandelt und erschlagen wurden wie 17.000 andere Insassen dieses Todeslagers zwischen 1975 und 1979.

Die Familie zerbrach

Die Eltern von Kerry Hamill erfuhren erst aus der Zeitung vom Tod ihres Sohnes. Alle Fragen über die Umstände – gerichtet an die Vereinten Nationen und die australische Regierung – blieben lange Zeit ohne Antwort. Die Familie zerbrach daran. Die Mutter wurde depressiv, erkrankte schwer und starb schließlich an Leukämie. Der Vater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, brach alle Kontakte zur Außenwelt ab. Um so mehr scheint Kerrys Bruder Rob – als Ruderer Silbermedaillengewinner bei den Weltmeisterschaften von 1994 – entschlossen, die Schuldigen am Tod seines Bruders vor das Kambodscha-Tribunal zu bringen. Bisher ohne Erfolg.

Im Blick auf Klagen wie diese hat der internationale Staatsanwalt Andrew Cayley Untersuchungsrichter Blunk mangelhafte Recherchen vorgeworfen. Er verlangt mehr Engagement und tut das ganz bewusst als Nachfolger des 2009 zurückgetretenen ECCC-Staatsanwaltes Robert Petit, der zu denen gehörte, die weitere Rote-Khmer-Führer belangen wollten – und scheiterten. 2007 erklärte Petit: „Sie müssen den Opfern erklären können, warum die Person, die Tür an Tür mit ihnen lebt, nicht verfolgt wird, obwohl dieser Nachbar ihre Familie umgebracht hat“. Robert Petits Demission erfolgte aus „persönlichen Gründen“.

Alexander Goeb hat für den Freitag bereits mehrfach über das Tribunal berichtet

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