Deutschland wird erstmals in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen herabgestuft und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Statistik (DAGStat) ruft dazu auf, statistische Allgemeinbildung stärker zu fördern. Zwei Meldungen, deren Aneinanderreihung zunächst irritiert. Was hat die Statistik der Journalistenorganisation mit der Forderung der Statistiker:innen zu tun?
Seit einem Jahr gehören Begriffe wie R-Wert, 7-Tage-Inzidenz und Infektionsrate zur täglichen Medienberichterstattung und bestimmen den politischen Kurs in der Corona-Krise, in dessen Rahmen Grundrechtseingriffe vorgenommen werden, die von den Bürger:innen mitgetragen werden müssen. Die Pandemie, die über statistische Zahlen kommuniziert wird, offenbart aber ein gesellschaftliches Defizit, das großes Konfliktpotenzial birgt: Das Unvermögen vieler Menschen, diese Statistiken zu verstehen. Warum sollte ich Ausgangsbeschränkungen mittragen und mich an die Bestimmungen halten, wenn ich die Werte, die zur Begründung dieser Maßnahmen herangezogen werden, nicht bzw. nicht umfänglich begreife?
Dieser statistische Analphabetismus spielt Demagogen in die Hände. Die Unfähigkeit, statistische Kennzahlen einzuordnen und damit die von der Politik und Epidemiologen geführte Diskurse zu verstehen, begünstigt ein Klima, in dem bisherge Gewissheiten – wie das Vertrauen in Wissenschaft oder Medien – ins Wanken geraten und die Frustration wächst. So werden gewalttätige Übergriffe gegen Befürworter der Corona-Maßnahmen und diejenigen, die darüber berichten, wahrscheinlicher. Die Schwere der Eingriffe in die Bewegungsfreiheit der Menschen wirkt sich dabei auf die Radikalität des Widerstands aus, wie der starke Anstieg an Angriffen auf Journalist:innen am Rande von Corona- Demonstrationen im Jahr 2020 – verantwortlich für Deutschlands Herabstufung durch Reporter ohne Grenzen – bezeugt.
Ein strukturelles Problem
Wie aber erklärt sich der Mangel an statistischen Kenntnissen in der Bevölkerung? „Es liegt nicht daran, dass etwas falsch im Hirn verdrahtet ist, sondern daran, dass man selten lernt, Statistiken zu verstehen – weder in der Schule, noch später“, betont Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz in Potsdam. Dort werden Fakten zum Coronavirus allgemeinverständlich in Grafiken und Tabellen aufbereitet. Er sieht im statistischen Analphabetismus ein strukturelles Problem, das strukturell gelöst werden muss und fordert daher eine „Mathematik der Ungewissheit“ und deren stärkere Einbindung in den Unterricht. Konkret ist damit Stochastik gemeint, unter der sich neben der mathematischen Statistik auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung subsumieren lässt – also der Umgang mit Unsicherheiten von Aussagen und Ursachen.
Einer, der dies bereits praktiziert, ist Christoph Waßner, Mathematik- und Informatiklehrer an dem Martin-Behaim-Gymnasium in Nürnberg und Mitglied des DAGStat. Er moniert: „Vor 20 Jahren haben wir bereits gesagt, da gibt es viel zu wenig Ausbildung in Stochastik.“ Bis heute sei Stochastik in bundesweiten Lehrplänen unterrepräsentiert und werde oft stiefmütterlich behandelt. In Bayern beispielsweise nimmt sie im Lehrplan nur circa 30 Stunden der gesamten Schulzeit ein, während für Geometrie alleine in der siebten Jahrgangsstufe ungefähr 50 Stunden vorgesehen sind.
Waßner versucht diesen Mangel in seinem Unterricht auszugleichen und lässt Erkenntnisse und Methoden aus der Mathedidaktik-Forschung einfließen. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitrechnung setzt er beispielsweise auf alternative Visualisierungsformen, deren Effektivität in Studien nachgewiesen wurde: Zur Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten – der Wahrscheinlichkeit, dass Ereignis A eintritt, wenn ein anderes Ereignis B bereits bekannt ist – verzichtet er auf die in den Schülbüchern dargestellten Baumdiagramme, die mit Prozentangaben arbeiten. Stattdessen nutzt er Baumdiagramme, die die bedingten Wahrscheinlichkeiten mit natürlichen Häufigkeiten angeben und von einer exemplarischen Grundgesamtheit ausgehen und die er gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern an die Tafel zeichnet.
Stochastik als Denkdisziplin
Laut Gigerenzer darf stochastisches Denken nicht als mathematische Disziplin, sondern als eine angewandte Denkdisziplin gelehrt werden, alltagsbezogen und mit konkreten Beispielen. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt Mathelehrer Waßner, der seinen Schülerinnen und Schülern im Kontext der mathematischen Statistik den Umgang mit echten, frei zugänglichen Daten beibringt. Mit einem realen Bezug zu den Daten können die Schüler:innen die Zusammenhänge besser verinnerlichen. So arbeiten sie bei einem solcher Projekte mit Daten des Statistischen Bundesamts und untersuchen Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Gender Pay Gap. In der Auseinandersetzung mit den Daten wird ersichtlich, dass Frauen im Niedriglohnsektor überrepräsentiert sind und die Lohndifferenz im Osten wesentlich niedriger ausfällt. „Es ist immer ein Highlight, wenn die Schülerinnen und Schüler am Ende des Projektes ihre Datenvisualisierungen und Erkenntnisse präsentieren“, sagt Waßner, der darin nachhaltigere Erkenntnisse und somit Lerneffekte für die Schüler:innen im Vergleich zur herkömmlichen Vermittlungsweise des Stoffes sieht.
Um dem Thema mehr Raum im Mathematiklehrplan einzuräumen, muss insgesamt eine stark verwurzelte Denkweise überwunden werden: „Viele Mathematiklehrkräfte empfinden Statistik nicht als Kernthema, sondern sehen es eher in anderen Fachbereichen angesiedelt“, sagt Waßner, der die Vermittlung von mathematischer Statistik in seinen Informatikunterricht integriert, weil in seinen Mathematikkursen nicht genug Zeit dafür ist.
Es bewegt sich was
Mittlerweile werden in Bayern aber viele Fortbildungen für Lehrkräfte im Bereich Stochastik angeboten und natürliche Häufigkeiten und Häufigkeitsbäume an bayerischen Gymnasien nun unterrichtlich intensiver genutzt. Ab wann diese verpflichtend in die Schulbücher aufgenommen werden, ist zwar noch offen, doch es bewegt sich etwas. „Alles was in die Richtung geht ist ein Meilenstein“, befindet Waßner und erhofft sich solche Entwicklungen auch in anderen Bundesländern.
Verständnis für statistische Zusammenhänge und die Bereitschaft, sich auch aktiv damit auseinanderzusetzen, könnte auch in der Pandemie zu einer größeren Akzeptanz politischer Maßnahmen führen und helfen, die Anfeindungen gegen Journalist:innen zu vermindern. Bürger:innen, die Statistiken eigenständig und realistisch einschätzen können und diese auch verstehen, lassen sich weniger von Fehlinformationen und Manipulationsversuchen desinformieren. Genau deswegen braucht es engagierte Lehrkräfte, die dieses Wissen den künftigen Generationen beibringen und Gewissheiten durch eine Mathematik der Ungewissheit stärken. Außerdem sind Formate notwendig, die auch Erwachsenen diese Kompetenzen vermitteln. Es steht nichts weniger auf dem Spiel als der gesellschaftliche Frieden und die Pressefreiheit.
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