Hang zum Überzeugungstäter

Wahlverwandschaft Die Islamisierer des Dschihad und die Demokratisierer aus dem Westens ähneln sich nicht nur in ihren Konzepten. Beide profitieren von Gewalt

Zehn Jahre sind vergangen, seit dem „berühmten September-Überfall auf Manhattan“, wie er in Anlehnung an die Sprache unserer Vorfahren genannt wird. Man fragt sich: Wie steht es um die Macht, nachdem versucht wurde, in der arabischen und islamischen Welt einen Wandel auszulösen?

„Macht bedeutet, dass eine höhere Macht einem friedfertigen und unwissenden Volk Veränderungen aufzwingt“, schrieb der koptische Gelehrte Yaqub, Zeitzeuge von Napoleons Ägyptenfeldzug (1798 – 1801). Diese Meinung scheint sich bis heute gehalten zu haben. Nicht nur in der arabischen und islamischen Welt beim Machtkampf zwischen Modernisierern und Islamisten, auch bei international agierenden Mächten, die überzeugt sind, in der arabischen und islamischen Welt herrsche Stagnation, die es zu durchbrechen gelte. Freilich hat sich bisher niemand ernsthaft mit dem Volk, den „Friedfertigen und Unwissenden“ beschäftigt, um sie von Ignoranz und Lethargie zu befreien. Sie bleiben anfällig für Dummheit und Naivität. Den Modernisierern gereichen sie allenfalls zu Tadel und Spott. Und für die Islamisten sind sie nur ein Rudel, das es zu sammeln und zu mobilisieren gilt.

Macht bedeutet somit nicht allein, Gewalt zu gebrauchen, um Wandel zu bewirken – Macht bedeutet auch, der breiten Masse, die weiterhin in einem Zustand der Friedfertigkeit und Unwissenheit verharren soll, Veränderungen zu oktroyieren. Dabei wird Gewalt immer die nächstliegende Methode sein. Wenn man sagt, dies sei ganz deutlich bei den Dschihadisten zu erkennen, die seit den sechziger Jahren eine Islamisierung voranbringen wollen, gilt Gleiches für die Demokratisierung, die von den Amerikanern angeblich im Irak und in Afghanistan betrieben wird. Auch hier wird Gewalt mit dem Ziel eingesetzt, Veränderungen zu oktroyieren.

Gegen den Kommunismus

Komischerweise wird jedoch die arabische Welt schon wesentlich länger von Demokratisierung und Modernisierung in Beschlag genommen als durch die Islamisierung: Seit über 200 Jahren nämlich, seit der Landung von Napoleons Flotte in Alexandria Ende des 18. Jahrhunderts, bis zur jüngsten Vergangenheit, in der Paul Bremer als US-Zivilverwalter im Irak saß, um das Land ins Zeitalter von Demokratie und Modernität zu geleiten. Eine Islamisierung wird hingegen erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts versucht, seit sich eine Strömung durchzusetzen begann, die inzwischen gemeinhin Dschihadismus genannt wird. Als Prototyp des Dschihadisten bezeichnete sich der Ägypter Sayyid Qutb, so stellte es zumindest Abd as-Salam Faraj dar, der größte Verfechter des Dschihadismus (und direkte Erbe Sayyid Qutbs). Faraj war es, der die Weichen für die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat im Oktober 1981 stellte. Er tat es aus „religiöser Pflicht“, damit der Islam wieder die Vorherrschaft in der Gesellschaft übernehmen könne. Seither gab es immer wieder gewalttätige Ausbrüche des Dschihadismus, der zum Kampf gegen Korruption und Totalitarismus in den arabischen Staaten antrat.

Als dann sowjetische Truppen Ende 1979 in Afghanistan landeten, bot sich für alle, die Israel und die Ölstaaten gern aus der Schusslinie der Dschihadisten hatten, eine einmalige Gelegenheit. Indem man zum Heiligen Krieg gegen den Kommunismus aufrief, wollte man dafür sorgen, dass sich in den abgelegenen Bergregionen Afghanistans Sowjets und Dschihadisten, fernab von Israel, gegenseitig aufrieben. Es sollte gelingen, nicht nur den russischen Bären zu erlegen, sondern sich außerdem jener lästigen und gefährlichen Legionen eines wütenden Islam zu entledigen. Doch als der russische Bären abzog, legten sich die Dschihadisten, nachdem sie auf einem internationalen Kriegsschauplatz einen konkreten Erfolg verbuchen konnten, mit jenen Förderern an, von denen sie nach Afghanistan geschickt worden waren. Sie suchten nun andere Schauplätze für den Dschihad, sei es in Manhattan oder auf Bali, in Casablanca oder Tschetschenien. Erst da begriffen die ehemaligen Gönner, dass die totalitären und korrupten Regimes in den arabischen Staaten einen optimalen Nährboden für religiös verbrämte, aggressive Gewalt boten. Sie kamen auf die „geniale“ Idee, den arabischen Despoten bei ihrem Treiben Einhalt zu gebieten, so wie es einst die sprichwörtlichen Mäuse vorhatten, als sie planten, der Katze eine Glocke um den Hals zu hängen. Doch war nach der afghanischen Erfahrung aus einem regionalen Dschihad längst ein globaler Dschihad gegen die imperialistischen Paten arabischer Diktatoren geworden – ein Dschihad, als dessen Inbegriff al-Qaida galt.

Kreis der Auserwählten

Der globale Dschihad antwortet auf die globalen Modernisierungsbestrebungen des Uncle Sam. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich die globale Islamisierung, die al-Qaida betreibt, und die globale Modernisierung, die von den USA und Europa ausgeht, vom Muster her kaum unterscheiden. Beide Lager wollen die Gesellschaft in den arabischen Ländern verändern und behandeln die Bevölkerung in altbekannter Manier als „Objekt“, dem man die Veränderung überstülpen kann. Auch die Strategien sind dabei durchaus vergleichbar. Während die Islamisierung eine „fromme Avantgarde“ formieren will, die ihre Gesellschaft aus der Profanität zurück auf den rechten Weg leitet, läuft die Strategie der Demokratisierung darauf hinaus, eine moderne politische Elite einzusetzen, die ihre Gesellschaft aus Dekadenz und Rückständigkeit führt. Beide Strategien funktionieren nach dem Prinzip eines „Kreises der Auserwählten“, der sich – unter Berufung auf das, was er für die Rechtmäßigkeit von Islam bzw. Demokratie hält – das exklusive Recht nimmt, die Gesellschaft zu leiten. Selbst bei der Praxis dieser vom Prinzip her ähnlichen Strategien sind beide Konzepte vergleichbar. Auch die Demokratisierung klammert sich gern an Institutionen wie Wahlen, Parlamente und Parteien. Die geistigen Inhalte, auf denen all diese Äußerlichkeiten basieren, fallen sowohl bei der Islamisierung als auch der Demokratisierung nahezu vollständig unter den Tisch. Genau darin aber liegt das Dilemma sowohl der Islamisierung als auch der Demokratisierung: Sie sind beide nicht in der Lage, die betreffenden Gesellschaften aus ihrem Elend und ihrer Not zu befreien.

Daher lässt sich wohl eines mit ziemlicher Sicherheit sagen: Sollte es dazu kommen, dass sich diese beiden Alternativkonzepte durchsetzen, wird der berühmte „September-Überfall auf Manhattan“ nichts weiter als ein einzelner Vorfall in der Geschichte der Menschheit sein, der sich nicht noch einmal wiederholt.


Ali Mabrouk
,54, ist Professor für islamische Philosophie an der humanistischen Fakultät der Universität Kairo. Zugleich leitet er das Koran-Forschungsinstitut in Jakarta





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt.

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