In Russland bringt eine breite Protestwelle die Autoritäten ins Schwitzen. Die vermuteten Wahlmanipulationen führten zur kritischen Masse, die sich vielfältig ausdrückt. Hunderte von mit Luftballons geschmückten Autos etwa formten sich zum Korso, der die Moskauer Innenstadt stundenlang lahmlegte. Kreative führen mit ihren Projekten die Proteste an und machen vor, dass Kunst doch widerständisch sein kann. So sucht die Performance-Guerilla Pussy Riot ihre Bühne im öffentlichen Raum: In Minirock und Hasskappe zelebrieren sie Songs wie „Putin Pissed Himself“. Avantgarde der Kunst-Kritik ist das Kollektiv Voina, das das nationale Selbstbewusstsein mit Street-Art-Aktionen seit Jahren erschüttert – und polizeilich mass
Mehrwert des Schuhs
A-Z Protestsymbole Russische Künstler wehren sich gegen Putin mit einem Riesenpenis, die Baskenmütze wird Folklore - und die Toten Hosen werden siegen! Unser Lexikon der Woche
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Jahren erschüttert – und polizeilich massiv verfolgt wird. Gegen Gott, Staat, Patriarchat legen sie Polizeiautos aufs Dach, projizieren Totenköpfe an den Kreml. Spektakulärste Aktion: Auf eine Petersburger Zugbrücke sprühten sie einen Riesen-Penis, der ausgestreckt dem Geheimdienstquartier entgegenprangte. Tobias PrüwerBusenOb Ursula Seppel ein heimliches Vorbild der barbusigen Aktivistinnen der 2008 gegründeten ukrainischen Frauen-Organisation Femen ist? 1968 zog die damals im sozialistischen Studentenbund aktive Lehramtsanwärterin gemeinsam mit acht Kommilitoninnen in einem deutschen Gerichtssaal blank. Das ging durch die Presse und dasselbe Rezept funktioniert noch heute. „Unsere Brüste sind unsere Waffen“, verkünden die jungen Frauen und setzen diese gegen vielerlei Unheil ein, sei es Sexismus und Sextourismus oder der Protest gegen die eigene Regierung. Bestückt mit Blumenkränzen oder kunterbunten Verkleidungen, haben ihre Auftritte Performance-Charakter. Sie kämpfen, nach eigener Auskunft, für eine bessere Position der Frauen in der rückständigen ukrainischen Gesellschaft und haben Ableger in Deutschland, Spanien, Frankreich, Polen und Tunesien. Gut so. Sophia HoffmannFaust Wenn sich die Finger einer Hand, jeder für sich schwach, zusammenballen, wird daraus eine Faust. Sie ist ein Symbol der Stärke durch Einheit. Damit ist noch keine Weltanschauung formuliert. Denn viele Organisationen und Bewegungen von linksaußen bis ganz nach rechts haben sich die Faust zu eigen gemacht. Die White-Power-Rassisten ebenso wie die serbischen Demokratieaktivisten von Otpor! Am berühmtesten wurde natürlich die Faust der Arbeiterbewegung. Nach der Spaltung in zwei Lager brauchte man für den korrekten Einsatz des Kampfgrußes allerdings fast ein Handbuch. Die Kommunisten grüßten sich mit der rechten Faust, die Sozialdemokraten mit der linken. Komplizierter wurde es Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das Erkennungszeichen der Kommunisten war die Faust in Kopfhöhe, während der Arm im rechten Winkel ausgerichtet sein musste. Die Sozialdemokraten streckten den Arm durch. Sie trugen die Faust noch lange in ihrem Emblem, kombiniert mit einer Rose. Mark StöhrHöflichkeit In den siebziger Jahren wurde in Dänemark das Logo der Kernkraftgegner geboren. Es sollte so freundlich grüßen wie die Willkommensschilder in dänischen Geschäften und ein Symbol sein für alle, die höflich, aber bestimmt protestieren wollen: ATOMKRAFT? NEIN DANKE! Seit dem 1. Mai 1975 kann sich jeder den Button anstecken, übersetzt in fast 50 Sprachen ist er auch bei Sammlern begehrt. Die Verkaufserlöse kommen noch immer der Antiatombewegung zugute. Die lächelnde Sonne wurde auch auf der letzten Massendemo im Frühjahr 2011 verteilt. Ich kam mir, unter Parteien und Polizeiaufsicht, aber vor allem jenseits von Castor, seltsam artig vor. ,Protest geht anders’, dachte ich und klebte einen Aufkleber an eine Ampel. Noch ehe der Beamte meine Personalien ganz aufnehmen konnte, bewahrte mich eine Frau vor einer Strafanzeige. Sie hatte höflicherweise den Aufkleber abgezogen und an ihre Jacke geklebt. Danke! Ulrike Bewer Kapuzenpulli Es war einst das Zeichen der gemütlichen Weltverneinung: Kapuze auf und die Welt musste draußen bleiben. Es gab ihn in zahllosen Varianten. Aber auf Demonstrationen trug man ihn am liebsten in Schwarz. Es ist ein fundamentales Missverständnis, dass man den Kapuzenpulli auf solchen mittlerweile kaum noch sieht. Er ist das Symbol einer revoltierenden Dialektik, ein Accessoire des Straßenkampfes und des Schlafes: Er ist Tarnung und eine kleine flauschige Decke zum Mitnehmen in einem. Wie sollen schon Träume von einer besseren Welt in einer funktionellen North-Face-Windjacke ihren Platz finden? So betrachtet ist „Alternativlosigkeit“ nur ein anderes Wort für die Krise des Kapuzenpullis. Sebastian DörflerKonsumstreikIn den vergangenen Jahren gab es vermehrt Aufrufe zum Konsumstreik. Eine Symbolik des Protests existiert hier in Form von leeren Geschäften oder statistischen Einbrüchen von Verkaufszahlen. Über soziale Netzwerke werden potenzielle Käufer dazu aufgerufen, konsumistische Enthaltsamkeit zu üben, um der Wirtschaft im Allgemeinen oder Konzernen und einzelnen Wirtschaftszweigen Schaden zuzufügen. Anonymous-Aktivisten haben kürzlich den „schwarzen März“ initiiert: Im Zuge der Proteste gegen ACTA Co. rufen sie dazu auf, einen Monat lang weder legal noch illegal Filme und Musik downzuloaden, nicht ins Kino zu gehen, keine Bücher, Zeitschriften, Computerspiele oder DVDs zu kaufen, die Unterhaltungsindustrie soll umdenken. Ein hehres Ziel, aber für den Einzelnen kaum umsetzbar. SH ModeKurt Tucholsky nannte sie einen „Eisbeutel aus Tuch mit einem Zippelchen obendrauf“: Ikonen der linken Bewegung wie Che Guevara oder Rudi Dutschke machten die Baskenmütze zu einer Marke des Widerstands, obwohl ihr Name auf Napoleon III. zurückgeht. Ihr erster Träger, der Geschichte schrieb, war im 19. Jahrhundert General Zumalacárregui, ein Monarchist. Als Marke für irgendwas, selbst als Mode-Vorreiter hat die Mütze nunmehr ausgedient. Die autonomen baskischen Polizisten tragen sie und bejahrte Franzosen mit Traditionsbewusstsein. Die Baskenmütze ist nur noch Folklore. Beim Palästinensertuch ist das kaum anders. Vom ehemaligen PLO-Chef Jassir Arafat in den globalen Umlauf gebracht, war das Pali-Tuch auch hierzulande in den Achtzigern ein populärer Solidaritätsstoff für Befreiungswellen. Inzwischen tragen es manche noch um den Hals, mit diffuser Haltung. MS Occupy Es war im Januar 2007. Über Nacht standen sie da, reihenweise rote Zelte am Ufer des Canal St. Martin, mitten in Paris. SDF stand auf manchen, „Ohne festen Wohnsitz“. Bürger solidarisierten sich mit den Obdachlosen, haben eine Nacht im Freien verbracht, Prominente ließen sich in Zelten fotografieren, und Politiker erhöhten die Wohnungshilfen um das Zehnfache. Das Zelt wanderte. Im Sommer 2011 schlugen Hunderte Israelis ihre Iglus in den Straßen von Tel Aviv auf, erst um gegen rasant steigende Mieten zu protestieren, dann wurde landesweites Campen für Gerechtigkeit daraus. Und nun Frankfurt, London, New York. Seit der Occupy-Bewegung sind das Zelt und seine Bewohner der Wall gegen das globale Finanzkapital. Maxi LeinkaufSchuh Deutsche sind organisiert. So auch bei dem aus dem arabischen Raum importierten Zeigen der Schuhsohle, ursprünglich ein Zeichen äußerster Verachtung: Du bist nicht mehr wert als der Dreck unter meinem Schuh. Spontan und im Affekt wird dem Gegenüber der gerade ausgezogene Schuh entgegengehalten. Oder er wird geworfen, wie im Fall des irakischen Journalisten Montasser al-Zaidi, der 2008 bei einer Pressekonferenz George W. Bush mit seinen Schuhen bewarf und das Protestzeichen weltweit berühmt machte. Auch in Deutschland werden neuerdings Politiker mit mitgebrachten alten Schuhen konfrontiert (zu Guttenberg, Wulff), die zum Teil zwecks besserer Sichtbarkeit auf Schirmspitzen drapiert werden. Man kann das vorsätzliche Entrüstung nennen. Jutta ZeiseVenceremos Wir sind mit diesem Zeichen aufgewachsen: nicht die Faust, sondern der gespreizte Zeige- und Mittelfinger. Venceremos! Wir werden siegen! Auf den legendären Chile-Demonstrationen 1973/74, kurz nach dem Pinochet-Putsch, war das Kampflied von Sergio Ortega und Victor Jara allgegenwärtig; kein Soli-Fest, bei dem die Platte von Inti-Illimani nicht lief, kein Linker, der sie nicht zu Hause hatte (ich habe sie über die Jahrzehnte und Städte hinweg gerettet). Dieses We shall overcome kannten wir natürlich schon aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings. Dass das von der Friedensbewegung übernommene Victory-Zeichen im Zweiten Weltkrieg als Churchills Durchhalteparole gegen Hitler geprägt worden war, war uns weniger geläufig. Die Toten Hosen haben das Lied anlässlich einer Musikmesse in Havanna 2002 dann adaptiert: „Wir werden siegen – irgendwann einmal. Venceremos, es wird ein langer Kampf.“ So geduldig waren wir damals nicht ... Ulrike BaureithelWeißes Band Leise weht es an Antennen mancher Trabis oder Wartburgs in den frühen achtziger Jahren der DDR. Das weiße Bändchen war das Zeichen derer, die einen Antrag auf Ausreise gestellt hatten. Manche fanden sich 1983 zu einer Protestgruppe in Jena zusammen, die sie „Weißer Kreis“ nannten. Das Fernweh, das sie trieb, sie wollten es öffentlich zeigen. Im Jahr 1989, als die Menschen massenweise das Land verließen, schrieb dann der populäre Liedermacher Gerhard Schöne das Lied „Das weiße Band“. Er widmete es den Ausgereisten, um die er trauerte, und den Daheimgebliebenen. „An manchen Autos weht heute ein schlohweißes Band. Das ist das Zeichen der Leute, die nichts mehr hält im Land. Die uns signalisieren, dass sie kapitulieren, dass sie es nun aufgeben, hier noch weiter zu leben ...“ Am Ende knüpft der Sänger in Gedanken noch ein grünes Band. Für die Hoffnung. ML Zensursula 2009 wurde das Zugangserschwerungsgesetz beschlossen, um Internetanbieter zu verpflichten, den Zugang zu vom Bundeskriminalamt vorgegebenen Seiten mit strafbaren kinderpornografischen Inhalten zu erschweren. Familienministerin Ursula von der Leyen setzte sich besonders vehement dafür ein, das Gesetz hätte aber auch als Basis einer Zensur-Infrastruktur missbraucht werden können. Sie wurde so zur Zensursula und ähnlich zu der bereits 2007 entstandenen Schäublone – ein Sprühschablonenbild, das den Kopf des Innenministers Schäuble mit der Unterzeile Stasi 2.0 zeigt – entstand ein neues Protestzeichen. Man sah es an Häuserwänden und auf Plakaten, vor allem auf T-Shirts. Das Gesetz wurde bereits im Dezember 2011 wieder aufgehoben. Maike Hank
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