Begabung als Fluch

Märchen von Mut, Monstern und Mutanten Die "X-Men"-Verfilmungen handeln von alltäglichen gesellschaftlichen Vorgängen wie Ausgrenzung, Identitätssuche und Rebellion

Die Superhelden, Monster-Halbwesen der höheren und niederen Volkskultur sind ja seit jeher dankbare Agenten unserer Wünsche und Ängste, Schattenseiten und Abspaltungen. Auch Comicfiguren, unsere an den Himmel, in die Unterwelt, in zukünftige oder vergangene Parallelwelten projizierten Stellvertreter, übernehmen da nur die Aufgaben griechischer Gottheiten, Jungscher Archetypen, heidnischer Elementargeister, animistischer Totemtiere, der Halbwesen und Doppelgänger der Romantik. Somit stehen auch sie dem Kulturbetrieb für halsbrecherische Interpretationsleistungen zur Verfügung

Bei der X-Men-Serie ist schon der Ausgangskonflikt von einem verführerischen allegorischen Mehrwert: Sämtlichen Filmereignissen geht voraus, dass aufgrund einer Gen-Mutation bei einem gewissen Prozentsatz der Erdbewohner außerordentliche physische und psychische Fähigkeiten freigeschaltet wurden, die sie nun aber der Mehrheitsgesellschaft suspekt machen. Ein andauerndes Leben im Verborgenen, ein aus Kränkung und Zurückweisung erwachsendes Ressentiment, das in eine narzisstische Selbststilisierung münden kann - all dies treibt die ungeliebten Mutanten dann wahlweise in die läuternde Schulung des weisen Telepathen Xavier, verkörpert von Patrick Stewart, oder in die neidische Bruderschaft des fernwirkenden Magneto, dargestellt von Sir Ian McKellen.

In den sechziger Jahren erdacht, 1975 konzeptuell neu gestartet und seit dem Jahr 2000 nun als Action-Film auf der großen Leinwand in Serie, haben die X-Men eine erkleckliche Anzahl politischer, gesellschaftlicher und ideologischer Umbrüche mitgemacht und dienten bereits als multiple Projektionsfläche: Japaner, Russen, Kommunisten, Hippies, Schwule, Juden, Afroamerikaner, indigene Ureinwohner und illegale Einwanderer - die Mutanten taugen zur Chiffre verschiedenster diskriminierter Minoritäten und Ethnien.

Dass die Phantasien um omnipotente Astralleiber derart mit Erörterungen zu Ein- und Ausschlussprinzipien der Einwanderungs- und Klassengesellschaft angereichert wurden, machte die X-Men folgerichtig zur wohl erfolgreichsten US-amerikanische Comicserie, mit zahllosen Spin-Offs und Sequels, und ließ auch bei den vorherigen zwei Verfilmungen (X-Men: Der Film, 2000 und X-Men 2, 2003) die Kassen klingeln.

Wenn in den ersten Folgen die Wahl der Waffen im Konflikt mit der Mehrheit thematisiert wurde, ging das nicht ohne anspielungsreiche Zitate: "By any means necessary" forderte Magneto wie einst Malcolm X den Kampf um Anerkennung, und die Staatsmacht fuhr im Gegenzug - wie New Yorks Bürgermeister Roberto Giuliani - mit "Zero Tolerance" eine harte Linie gegenüber den Querulanten. In X-Men: der letzte Widerstand kommt es nun zu akuter Bedrohung und finaler Revolte: ein Industriemagnat erwägt die Serienproduktion eines Serums, das die zugegebenermaßen bisweilen recht zerquälten Mutanten "heilen" kann - Normalität um den Preis der Einzigartigkeit. Ging es bislang um Fragen von Integration, Marginalisierung oder Rebellion, kommt jetzt also die Identitätsproblematik der hybriden Halblinge hinzu: Selbstbestimmung, das Recht auf Individualimus. "We don´t need a cure - we are the cure" ("Wir brauchen kein Heilmittel - wir sind es") propagiert Magneto nun in Gangsta-Pose.

Parallel zu diesem Minderheitendiskurs verläuft jedoch eine innere Debatte, die das ganze Szenario ins Licht Freudscher Kulturtheorie rückt: Was die X-Men-Reihe von anderen, in einer überschaubaren Anzahl von maximal fantastischen Vier auftretenden Comicfiguren unterscheidet, ist nicht nur der psychologische Ansatz, sondern auch, wie hier das gesamte abendländische Archiv literarischer und mythologischer Quellen, Figuren und Motive verwurstet wird - von Homer und Ovid über die Artus-Sage bis hin zu H.G. Wells. Die Mutanten kämpfen mit Feuer und Eis, Licht und Schall, Flüssigstahl und Röntgenstrahlung, gebieten über Wetter, Sonnenplasma, Elektrizität; in ihren Reihen wirken Formwandler, Selbstheiler, Telekineten und Photosyntheten.

Die schillernde Parade der Mutanten-Alleskönner verkörpert dabei die "polymorph-perversen" Aspekte des unbewussten Kollektivs, dem ungezügelten Wuchern elementarer Fähigkeiten entspricht eine Befindlichkeit der kapitalistischen Moderne: einerseits der Drang und Zwang, noch schneller, noch stärker, noch virtueller und vor allem: noch flexibler zu sein, unbegrenzt verfügbar, andererseits der konservative Wunsch nach letzten Widerständen, klaren Grenzen und harten Konturen.

Freuds Leitsatz der Psychoanalyse "Wo Es war, soll Ich werden" formuliert den unterschwelligen Grundkonflikt aller drei Film-Sequels: Der finstere Weltverschwörer Magneto als hedonistisch-triebhafter Vertreter des ES bereitet die völlige Entfesselung, die Weltherrschaft durch die Mutanten vor. (Interessanterweise ist die Trilogie immer wieder mit Bezügen zum Faschismus - Entgrenzung des Massen bei gleichzeitiger Formierung - aufgeladen). Dem steht Schutzherr und Patron der Mutanten Xavier als sublimierendes und kulturschaffendes Über-Ich entgegen; ins Korsett des Rollstuhls gefesselt, verkörpert er die Überlegenheit des reinen Geistes über alle Gelüste.

Der Kampf um das ICH wird über die in X-Men 2 gestorbene Figur der Jean Grey ausgetragen. Dass ein verstorbener Held in der Fortsetzung wieder aus dem Hades emporsteigt, gehört zum Gesetz der Serie, jetzt ist die Wiedergängerin als "Dark Phoenix" mit ungeheuren telekinetischen Kräften ausgestattet, und findet sich eingespannt im Ringen zwischen zwei väterlichen Leitbildern: Xaviers Prinzip der Sublimierung - um den Preis der Selbstverleugnung - steht gegen Magnetos nietzscheanisches Genießen der eigenen Machtfülle, was aber leider in Tod und Zerstörung enden muss.

Auf der Regieebene wird dieser interessante Konflikt zugunsten der Apokalypse entschieden: In den ersten beiden Filmen hatte Auteur-Regisseur Bryan Singer die X-Men-Schar gewissermaßen auf den elastischen Leibe geschriebenen CGI-Morphing-Effekte mit Subtilität, Charakterzeichnung und Atmosphäre angereichert. Jetzt, im dritten Teil, reißt der Handwerker Brett Ratner, als Regieersatz aus der dritten Reihe eingesprungen, alles in den Orkus der Maßlosigkeit, in einer zugegebenermaßen bildgewaltigen Endschlacht. Das reiht sich bestens ein in die Folge der aktuellen Blockbuster, bei denen man mit Zunahme der Fortsetzungen und der Filmminuten bisweilen nicht mehr so richtig weiß, ob man sich noch in Matrix III, im Krieg der Welten oder schon in Die Rache des Sith befindet. Bryan Singer übrigens quittierte den Dienst bei den X-Men, weil er die Arbeit mit einem wertkonservativen aber zukunftsweisenden Heldenmodell vorzog: Superman Returns startet in drei Wochen in den USA.


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