Auch eine Frage des Klimawandels

Kommentar Politischer Streik und neue Linke

"Der politische Generalstreik ist gewiß eine der wichtigeren Äußerungen der Massenaktion des Proletariats, und es ist durchaus notwendig, daß die deutsche Arbeiterklasse sich gewöhnt, auch dieses bis jetzt nur in romanischen Ländern erprobte Mittel ohne jeden Dünkel und ohne vorgefaßten Doktrinarismus als eine der Kampfformen zu betrachten, die eventuell auch in Deutschland versucht werden könnten." Das Zitat könnte von Oskar Lafontaine sein, ist allerdings über 100 Jahre alt und Rosa Luxemburgs Aufsatz Sozialdemokratie und Parlamentarismus vom Dezember 1904 entnommen.

Oskar Lafontaine setzt sich seit längerem für das politische Streikrecht ein. Und er tut das nach meinem Eindruck zu Recht. Hartz IV, die tiefen Schnitte ins soziale Netz, ein forcierter Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsvorsorge und die politische Zumutung, eine ganze Gesellschaft den Entscheidungen einer "freien" Wirtschaft zu überlassen, bedeuten für Millionen soziale Ausgrenzung und Demütigung. Das zerstört die demokratischen Standards eines Gemeinwesens und erweist sich im Übrigen auch längst als gefährlicher wirtschaftspolitischer Humbug. Wenn sich die herrschende Politik radikalisiert, verlangt das auch nach einer Radikalisierung der geistigen und praktischen Kritik dieser Politik. Im Streit um die Formierung einer neuen Linken in Deutschland wird dies nicht selten ebenso unterschätzt wie der kompetente Realismus der wirtschafts- und finanzpolitischen Positionen Lafontaines. Eigentlich warten die schon seit 20 Jahren darauf, von der Linken politisiert zu werden, ohne in dieser Zeit an strategischem Zuschnitt verloren zu haben. Immerhin waren Lafontaines Auffassungen nach dem Regierungsantritt von Rot-Grün 1998 geeignet, ihn in der britischen und deutschen Boulevardpresse zum "Feind Nr. 1" zu erklären.

Nicht zuletzt wegen seiner fundierten Alternativen ist der ehemalige SPD-Vorsitzende vielen, die für die PDS unerreichbar blieben, derzeit ein nicht ersetzbarer Adressat ihrer Hoffnung auf eine andere Politik. Das Wahlergebnis der Linken 2005 ist in dieser Hinsicht eindeutig.

In der Forderung nach einem politischen Streikrecht zeigen sich jedoch auch ungelöste Probleme einer kritischen Debatte - bis hin zu den Barrieren für einen linken Avantgardismus. Denn Rosa Luxemburgs Verweis auf die "romanischen" Länder hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. In Italien sah sich der frühere Premier Berlusconi während seiner fünfjährigen Amtszeit gleich mit einem Dutzend Generalstreiks konfrontiert, die sich gegen einen massiven Rückbau staatlicher Leistungen richteten. Noch gut in Erinnerung dürfte auch der landesweite Ausstand vom März in Frankreich sein, der das Gesetz zum Abbau des Kündigungsschutzes für Jugendliche zu Fall brachte. In Deutschland freilich wäre Derartiges unmöglich. Nicht weil die Regierungspolitik hierzulande sozialer wäre, sondern die Bundesrepublik neben Dänemark und Großbritannien zu den wenigen EU-Staaten gehört, in denen politische Streiks als unzulässig gelten. Dabei ist ein ausdrückliches Verbot nirgendwo fixiert. Vielmehr wird die äußerst detaillierte Regelung zu tarifrechtlichen Konflikten als Ausschlusskriterium gedeutet. Ein Vorgehen, das selbst dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zu schaffen macht: Eine im Frühjahr vorgelegte Studie wertet das deutsche Arbeitskampfrecht als Verstoß gegen die Europäische Sozialcharta, die auch für Deutschland gilt.

Das weit größere Problem aber - es fehlt in Deutschland an der für politische Streiks notwendigen politischen Kultur. Es sind nicht allein große Koalitionen, die parlamentarischen Widerstand versanden lassen, es sind auch wenig offensive Gewerkschaften, die durch ihre Bindung an die Sozialdemokratie blockiert sind. Insofern nützt der Ruf nach einem extensiven Streikrecht wenig. Solange die Gewerkschaften es nicht selbst verlangen, solange vor allem die Gesellschaft ein solches Interventionsrecht nicht beansprucht, bleibt die Forderung an sich wirkungslos. Seit zehn Jahren bezeugen Umfragen eine paradoxe Situation: Etwa 80 Prozent der Menschen wollen eine grundlegende gesellschaftspolitische Wende - mehr als 70 Prozent halten sie für unmöglich. Für linke Politik eine Vorlage, die zugleich erkennen lässt, was der Linken in Deutschland mit Blick auf die zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte vorzuwerfen ist: Sie hat sich zu wenig darum bemüht, das geistige Klima verändern zu wollen, sie hat oft die dafür erforderliche intellektuelle Kleinarbeit gescheut, die unverzichtbar ist, um die neoliberale Hegemonie zu durchbrechen.

André Brie ist Europa-Abgeordneter


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