Bombodrom Bagdad

Blutigster Monat seit Kriegsende Der Irak erlebt den Vormarsch eines stoischen Fundamentalismus, die US-Besatzungspolitik ein Fiasko

Auf dem Gasali-Friedhof in Neu-Bagdad singt der Imam an diesem Julitag den Grabgesang vor einem frischen Totenmal. Hier liegt eines der Kinder, die Mitte des Monats beim Selbstmordattentat mit einem Tanklastzug in Mussajib verbrannten - ein Anschlag, dem 98 Menschen zum Opfer fielen und der endgültig keinen Zweifel mehr zulässt, einen solchen Monat der Gewalt hat der Irak seit Beginn der Besatzung noch nie erlebt. Die US-Streitkräfte, deren Oberbefehlshaber George W. Bush am 1. Mai 2003 das Ende des Krieges verkündet hat, verfolgen ein neues Ziel: Die Zahl der täglichen Anschläge auf die eigenen Soldaten soll von 80 auf 45 - wie vor den Januarwahlen - verringert werden. Ein vergleichbares Ziel, um den Terror gegen die Iraker aufzuhalten, gibt es nicht.

Bürgerkrieg nennen es die einen, von einer "Massenvernichtung" spricht Großayatollah Ali al-Sistani, auf eine Offensive sunnitischer Aufständischer gegen die schiitische Mehrheit erkennt ein Teil der Auslandspresse in Bagdad und durchaus moderate sunnitische Politiker werfen dem Iran vor, zur zweiten Besatzungsmacht geworden zu sein und einen von Teheran abhängigen islamischen Gottesstaat errichten zu wollen. Der amerikanische Präsident und seine Außenministerin halten indessen bei Sonntagsreden an der leeren Vision eines demokratischen Irak fest. Mehr als eine Fiktion bleibt davon nicht, das Scheitern von Bushs "Greater Middle East" steht vorerst außer Frage. Doch was ist eigentlich gescheitert? Die Amerikaner hatten für die Zeit nach dem Einmarsch kein Konzept, und sie haben heute bestenfalls eines für die Kontrolle des Erdöls, für die Milliarden-Geschäfte der Konzerne aus der Bush-Entourage und für die Militärpräsenz in der Region.

Die Europäer - ohnehin hoffnungslos gespalten - sind nicht besser. Wie überhaupt die offizielle Politik im "Westen" - das offenbaren die Reaktionen auf die Attentate von London und Scharm el Scheich - weder bereit noch fähig scheint, die explosive Lage zu begreifen, in die man dank der amerikanischen Mittelost-Politik geraten ist. Es darf nicht eingestanden werden, dass sowohl die Militärstrategie als auch eine selbstgerechte Demokratisierungsdoktrin folgenschwere Fehlschläge sind.

Denn es gibt im Irak keinen Frieden, keine Sicherheit, keine wirtschaftliche Gesundung des Landes. Einige Dutzend Mal am Tag bricht in Bagdad die Stromversorgung zusammen. Trinkwasser ist knapp und ungenießbar. An den Tankstellen stehen die Autofahrer in glühender Hitze in tausend Meter langen Schlangen stundenlang nach Benzin an. Die irakische Hauptstadt - so jedenfalls mein Eindruck - ist innerhalb eines Jahres regelrecht verslumt, und die großen Werbetafeln von Coca Cola, Samsung oder Siemens machen diese Verwahrlosung bunt.

Für einen Europäer ist es kaum vorstellbar, wie sich die Menschen mit der alltäglichen Gewalt einrichten müssen. Eine Lehrerin aus Khalis beginnt zu weinen, als sie mir davon erzählt, dass in ihrer Stadt während der vergangenen Tage ein Dutzend Polizisten in die Luft gesprengt worden sind, dann wieder der Sprengsatz in einer Kaserne gerade noch rechtzeitig entdeckt wurde, aber kurz darauf 13 Männer im Kugelhagel starben, als sie den amerikanischen Stützpunkt, ihren Arbeitsplatz, verließen.

Der brachiale Widerstand gegen die Besatzung kommt von sunnitischen Extremisten und Anhängern des alten Regimes, die sich mit dem Verlust ihrer Privilegien nicht abfinden, ebenso wie aus den Netzwerken Abu Mussab al-Sarkawis oder schiitischer Todesschwadronen, die bevorzugt gemäßigte Politiker, aber auch Offiziere der alten Armee umbringen (160 Piloten sollen inzwischen aus Rache für ihre Rolle im irakisch-iranischen Krieg zwischen 1980 und 1988 getötet worden sein). Der Widerstand rekrutiert sich gleichfalls aus den vom Iran unterstützten Qods Forces und Badr-Corps, die Militär und Polizei im Süden unterwandert haben sowie weite Teile der schiitischen Metropolen kontrollieren. Wenn in westlichen Medien diese Region als relativ stabil beschrieben wird, bleibt in der Regel unerwähnt, dass diese Stabilität der vagabundierenden Macht fundamentalistischer Milizen und ihrer Mordkommandos geschuldet ist.

Gleichfalls ausgeklammert wird jener reaktionäre Fundamentalismus, der sich inzwischen unverhohlen gegen Frauen richtet, was nicht zuletzt in der Verfassungskommission zu spüren ist, die bis Mitte August ihren Entwurf vorlegen soll. Dr. Suha al-Azaye, Mitglied der Kommission und Vorsitzende einer nationalen Frauenorganisation, forderte kürzlich während einer Sitzung, klar definierte Frauenrechte in die Verfassung aufzunehmen. Die Antwort ihrer Kollegen war unmissverständlich: Frauenrechte seien ausreichend in der Scharia geregelt. "Das war das erste Mal, dass Sie dazu gesprochen haben. Ein zweites Mal wird es nicht geben", sagte ihr unwidersprochen ein islamistisches Mitglied des Gremiums. Deutlicher konnte die Drohung nicht sein. Für den 30. Juli hat Suha al-Azaye dennoch einen Frauenprotest in Bagdad organisiert.

So widersprüchlich die politischen und ideologischen Extremisten in ihrem Selbstverständnis auch sein mögen, was sie bewirken, weist in eine Richtung: Der Irak steht vor einer blutigen Sezession und erlebt den Vormarsch eines mittelalterlichen Fundamentalismus. Verheerender könnte das Fiasko für die amerikanisch-britische Politik kaum sein. Ihr fällt nicht viel mehr ein, als auf die großen politisch-militärischen Machtgruppen zu setzen, die auf unterschiedliche Weise in Terror und Bürgerkrieg verstrickt sind, während gemäßigte Stammesführer und Geistliche sowie die durchaus vorhandenen demokratischen Gruppen wenig oder gar keine Beachtung finden. So werden auch weiterhin Tausende von Irakern diese Ignoranz mit ihrem Leben bezahlen.


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