Elmar Altvater und WASG-Vorstand Thomas Händel haben sich in dieser Zeitung (Freitag vom 8. 4. 2005), einige andere in weiteren Erklärungen zu meinem Artikel im April-Heft der Zeitschrift Sozialismus und dabei mehr oder weniger direkt auch zu den Wahlaussichten von PDS und Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) geäußert.
Es mag richtig sein, dass etwa 15 Prozent der Menschen in Deutschland Wertorientierungen, Forderungen und Selbsteinschätzungen haben, die als Kanon eines linken Wählerpotenzials beschrieben werden können. Doch Thomas Händel täuscht sich, wenn er glaubt, dass neben der PDS "zehn Prozent" für die WASG erschließbar wären, nur weil dieses Potenzial eben existiert. Es liegt dabei gewiss nicht am Engagement der jeweiligen Parteiaktivisten, schon gar nicht an klugen Papieren, an Plakaten und vernünftigen Ideen. Doch der bei weitem größte Teil dieses Wählerpotenzials rekrutiert sich aus faktischen oder sogar erklärten Nichtwählern, die vielfach längst sozial und kulturell ausgegrenzt sind. Eine breite, teilweise sehr grundsätzliche Unzufriedenheit geht in der Bundesrepublik Deutschland - anders als bei der Entstehung der Grünen vor 25 Jahren - mit Resignation, Passivität und dem Fehlen von Wechsel- und Aufbruchstimmung einher. Darüber ließe sich gewiss noch mehr sagen, und empirische Fakten dazu sind ausreichend vorhanden.
Doch gemessen daran, worauf es nach meiner Einschätzung und Überzeugung wirklich ankommt, ist jede Arithmetik - jetzt muss und will ich Parteipolitikern weh tun - ein sekundäres und langweiliges Thema. Elmar Altvater hat mit seinem Kommentar im Freitag Recht. Es mag ein gutes Gefühl sein, vom eigenen Zwei- oder Vier- oder meinetwegen auch Sechs-Prozent Maulwurfshügel auf die linke Tiefebene ringsum zu blicken. Mir selbst war dieses Gefühl seit 1990 gelegentlich auch nicht fremd. Dann gefiel man sich in Überlegungen vom Mitte-Links-Block, vom linken Druck auf die SPD oder den Chancen, die sich einem Mehrheitsbeschaffer für Rot-Grün bieten könnten. Ich glaube jedoch, dass es endgültig um eine völlig andere Aufgabe und Verantwortung geht. Der Berg, den es - um Altvaters anderes Bild aufzugreifen - zu besteigen gilt, scheint maßlos nach den unterschiedlichen linken Abstürzen der vergangenen beiden Jahrzehnte.
In Deutschland und in den meisten EU-Staaten wird derzeit mit dem stereotypen Argument, man wolle den Sozialstaat erneuern, derselbe zertrümmert. Die Agenda 2010 und besonders die Hartz-Gesetze führen den von Union und FDP vorbereiteten Systemwechsel herbei, beseitigen die noch vorhandenen Hindernisse für dessen Vollendung durch die nächste, höchstwahrscheinlich schwarz-gelbe Bundesregierung. Geschwächt werden dadurch alle in Frage kommenden Gegenmächte - die Demokratie, die emanzipatorischen und sozialen Ressourcen des Staates und die Gewerkschaften. Das ist der eine Teil der Analyse, die mich zwar auch nicht auf den Berg, aber erst einmal auf die Barrikade bringt. Der andere besagt: Gerade jetzt, in dieser Defensive, in diesem marktradikalen Einheitsnebel, zeigt sich der Berg, zeigt sich die Möglichkeit, ihn zu erklimmen.
Es geht nicht mehr primär um fünf Prozent, es geht nicht um eine oder zwei hübsche, alte oder neue linke Minderheitsparteien in einer gesellschaftlichen Nische. Es geht um den Beginn des Kampfes für einen grundlegenden politischen Richtungswechsel. Das nur - so glaube ich - kann auch die Faszination eines bei linken Wählern dauerhaft erfolgreichen Projektes sein. Was WASG, Attac, PDS, linke Intellektuelle in Kirchen, Universitäten, Medien und Kultur, was kritische Geister in den Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden dafür zusammen bringen können, mag wahlarithmetisch auch in mittlerer Perspektive nicht mehr als 15 Prozent sein, aber geistig und politisch kann und muss es nicht weniger als der entscheidende Beitrag sein zur Umkehr von der Selbstzerstörung demokratischer und sozialer Verfasstheit der Gesellschaft hin zu einer modernen solidarischen und demokratischen Alternative. Einer Umkehr, deren Anziehungskraft sich dann vielleicht auch andere Parteien nicht verschließen können, die zur Zeit dem Neoliberalismus erliegen.
Man kann über das Verhältnis von WASG und PDS diskutieren. Aber hundert Mal mehr muss man darüber diskutieren, was in Deutschland abläuft, welche Herausforderungen und Möglichkeiten es für eine demokratische Linke gibt. Der Maßstab ist nicht der Wahlerfolg oder -misserfolg der PDS oder der WASG. Der Maßstab ist nicht die berechtigte oder übertriebene Skepsis von Attac gegenüber linken Parteien, der Maßstab ist nicht das Urteil oder Vorurteil linker Intellektueller gegenüber der aus der SED hervorgegangenen und nach Ostdeutschland riechenden PDS (oder analoger Vorurteile gegenüber der WASG). Der Maßstab meiner Überlegungen ist, dass Arme in einem Deutschland, das reicher denn je ist, fünf Jahre früher sterben, dass mangelnde Bildungschancen vererbt werden, dass Kinder in Deutschland das Armutsrisiko Nummer eins sind, der Maßstab sind die offiziell mehr als fünf Millionen Arbeitslosen, sind die Hartz-IV-Betroffenen und ihnen gegenüber die fünf Prozent der Haushalte, die geschichtlich beispiellos inzwischen über 35 Prozent des deutschen Gesamtvermögens verfügen. Der Maßstab könnte tatsächlich auch sein, dass eben 10 bis 15 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik nicht mehr parlamentarisch und politisch vertreten sind. Und zwar jene, die anders als die Unternehmerverbände, großen Konzerne und Banken keine Lobby haben!
In den Programmen der linken Parteien, im Steuerkonzept von Attac und ver.di, in den Büchern von Lafontaine, Altvater, Bisky und Dahn sind zudem längst die Konturen einer realistischen Alternative auf den meisten Gebieten skizziert. Es ist viel mehr und sehr viel Wichtigeres als der Wahlerfolg der einen oder anderen Partei möglich. Und notwendig. Das ist das Thema.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.