Karzais neue Kleider

Kommentar Afghanistan und die Religionspolizei

Zwei von vielen ähnlichen Meldungen aus diesen Tagen: Nach Angaben der US-geführten Besatzungstruppen haben Taliban-Kämpfer erneut eine Mädchenschule in der Provinz Nuristan niedergebrannt. Fast zeitgleich, so heißt es, habe sich ein muslimischer Rat für die Wiedereinführung der Religionspolizei ausgesprochen, die für mehr Respekt vor den religiösen Regeln sorgen solle. Präsident Karsai wolle dieses Vorhaben im Spätsommer dem Parlament unterbreiten. Auch die erneute Einrichtung einer Behörde zur "Abwendung der Sünde" sei im Gespräch.

Eine Religionspolizei wie auch das frühere "Ministerium zur Verhinderung des Lasters und zur Förderung der Tugend" - sie dürften vielen in Afghanistan, Frauen und Mädchen besonders, noch in schlechter Erinnerung sein. Beide existierten bis zum Sturz der Taliban im Oktober 2001 und hatten das islamische Recht der Scharia in seiner dogmatischsten Auslegung durchzusetzen. Nicht gestattet waren Kino, Musik und Spiele, ebenso verboten Alkohol und öffentliche Hochzeiten oder Radio und Fernsehen. Frauen und Mädchen war es strikt untersagt, eine Schule zu besuchen und einen Beruf auszuüben. Der Kollaps des Gesundheits- und Bildungssystems und der uralten afghanischen Kultur war eine direkte Folge dieser Verdikte.

Was die Taliban an Strafen androhten, um ihrem Rechtsverständnis Geltung zu verschaffen, glich den Torturen im Zeichen der Inquisition und des Mittelalters. Allein in Kabul patrouillierten Hunderte Religionspolizisten. Frauen, die ihnen nicht ausreichend verschleiert schienen oder ohne männlichen Begleiter unterwegs waren, wurden sofort mit Stöcken geschlagen. Die Sittenwächter kontrollierten Barttracht und Haarschnitt von Männern. Auspeitschungen waren üblich, größere Verstöße gegen die Scharia wurden mit dem Abhacken von Gliedmaßen, öffentlicher Hinrichtung und Steinigung geahndet. Ausgesucht grausam war der Umgang mit Homosexuellen: Nicht selten wurden sie lebendig begraben.

Wenn jetzt mit den Taliban auch ihre Dogmen zurückkehren, kommt das nicht von ungefähr. Für die meisten Menschen in den ländlichen Regionen hat sich fünf Jahre nach dem Sturz des radikal-islamischen Regimes kaum etwas geändert. Zudem brüskiert die Besatzungsmacht mit kolonialer Arroganz den Nationalstolz der Afghanen, steht die Hilfeleistung der "internationalen Gemeinschaft" größtenteils auf dem Papier oder übersieht die kulturellen Eigenarten des Landes.

Wie weit die Ignoranz gegenüber der afghanischen Tradition gehen kann, offenbart der Umstand, dass die Leibesvisitation von Frauen und die Durchsuchung von Frauengemächern von männlichen Angehörigen der US-Streitkräfte vorgenommen werden. Überdies treiben rücksichtslose Luftangriffe mit ihren primär zivilen Opfern und die international - im Gegensatz zu Guantanamo - kaum beachteten Foltergefängnisse der CIA und anderer US-Dienste in Bagram ganze Familien-, ja Stammesverbände zu den noch vor Jahren verhassten Taliban zurück.

Präsident Karzai gilt vielen mehr denn je als Mann der USA. Dass er und seine Regierung nun mit eigenem Fundamentalismus auf die islamistische Renaissance reagieren, ist ebenso wie die Fixierung des Westens auf eine militärische Lösung der endgültige Weg in die Sackgasse - die Warlords, die Drogen- und Waffenhändler werden dies kaum als Kampfansage, eher als Ermutigung empfinden. Wie im Irak, gegenüber dem Iran, der Hisbollah oder Hamas sind die Verantwortlichen in der UNO, der NATO oder der EU nicht zu einer ursachenorientierten Politik bereit. Der imperialistische "Krieg gegen den Terrorismus" nährt Extremismus und Terror, zumal er sich selbst terroristischer Methoden bedient. Die zynische Politik der USA, sich mit dem Argument der Menschenrechte über deren Geltung hinwegzusetzen, diskreditiert jeden zivilisatorischen Anspruch grundlegend.

Unmittelbar nach der westlichen Intervention in Afghanistan habe ich dort erlebt, wie groß die Erwartungen der Menschen auf eine freiere und friedliche Entwicklung waren - diese Hoffnungen sind zerstoben. Der zum Zeitpunkt des Sturzes der Taliban fast 25jährige Krieg ist für die Afghanen zu einem 30jährigen geworden. Sie zahlen wie auch die Menschen im Irak, im Libanon und in Palästina einen entsetzlichen Preis für die Anti-Terror-Hybris des Westens. Der Anspruch auf ein Recht zur Herrschaft, das über der Herrschaft des Rechts steht, hat weltweit für bedrohliche Schäden gesorgt. Noch einige dieser "Siege" der USA, und der Terrorismus wird über das internationale Recht, die Menschenrechte und Demokratie gesiegt haben.

André Brie ist Europa-Abgeordneter.


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