Eine EU ohne Verfassung ist eine EU in schlechter Verfassung. Zu viele originäre Souveränitäts- und andere Rechte sind längst von den Staaten an die EU abgegeben worden. Dass die Bürgerinnen und Bürger - mit Ausnahme der Direktwahl des Europäischen Parlaments - keine individuellen, einklagbaren Rechte gegenüber den europäischen Institutionen geltend machen können und Demokratie, Parlamentarismus und Subsidiarität in dieser machtvollen Union so defizitär sind, ist ein inakzeptabler Zustand. Aber "besser keine Vereinbarung als eine schlechte" - eine weithin geteilte Meinung. Und die Handlungsfähigkeit einer Union der 25 ist sicher keine Randfrage. Eigenartig jedoch, dass die Warnung vor misslungenen Vereinbarungen so vehement auf die national gefärbten Machtverhältnisse im Europäischen Rat reduziert wird, während eine Erneuerung der Integrationsidee, einer identitätsstiftenden europäischen Vision - etwa als Verteidigung des europäischen Sozialstaates in Zeiten der Globalisierung - selbst für sozialdemokratisch-grüne Regierungen kein Thema ist. Es ist daher nur folgerichtig, dass sich in einem Europa, dessen Idee allzu sehr auf die "Idee" des Marktes - der keine Idee benötigt - beschränkt wird, nationale Krämerseelen und ihr machtbetontes Gefeilsche behaupten. Ein realistischer, aber zugleich visionärer Verfassungsvertrag hätte sich nicht so leicht verhindern lassen und über einen ganz anderen Rückhalt in den Bevölkerungen verfügt.
Steckt die "Gemeinschaft" nun in der "schwersten Krise seit ihrer Gründung"? Ja und nein. Tatsache ist, dass in Brüssel einmal mehr nationale Ansprüche dominierten. Es ist nachvollziehbar, dass die "Kleinen" auf der Beachtung ihrer Interessen neben jenen der "Großen" wie Deutschland und Frankreich bestehen. Mit der auf dem Nizza-Gipfel im Dezember 2000 ausgehandelten Stimmgewichtung waren Polen und Spanien - nun als "Blockierer" stigmatisiert, obwohl sie auch für andere EU-Länder sprachen - mehr als zufrieden. Nach meiner Überzeugung wären ihre legitimen Wünsche durchaus mit einer effektiveren Entscheidungsfähigkeit durch das Instrument der "doppelten Mehrheit" vereinbar gewesen. Stattdessen wurde mit den Alleingängen der beiden "Großen" in der EU-Verteidigungspolitik und beim Zurechtbiegen des Stabilitätspaktes schon vor Brüssel allen anderen demonstriert, wie sie künftig brüskiert werden könnten. Auch sollte nicht vergessen werden, dass gerade Polen auf lange Zeit mit der Anpassung an das "System EU" kämpfen wird, das wenig Rücksicht auf tradierte soziale Strukturen nimmt und polnischen Bauern sogar noch Teile der in der Alt-EU gezahlten Subventionen vorenthält. Wer wollte Warschau verübeln, auf die wenigen verbliebenen Rechte zu pochen?
"Keine Verfassung" bedeutet nun, dass der Vertrag von Nizza mit jenen Regelungen in Kraft bleibt, die Blockaden und Rationalisierungen begünstigen. Das kann die Integrationsfähigkeit der EU gefährlich schwächen. Allein die Existenz der gemeinsamen Währung in zwölf EU-Staaten - ohne ausreichende Harmonisierung von Steuer- und Haushaltspolitik - birgt ein enormes Potenzial für Instabilität und begünstigt neoliberales Sozial-Dumping. Bei den derzeitigen Schuldzuweisungen darf allerdings nicht unterschlagen werden, das es Gerhard Schröder und Joschka Fischer persönlich waren, die beim Agreement von Nizza eine entscheidende Rolle gespielt hatten.
Vielleicht war die aufgeheizte Debatte um Stimmrechte der Gipfelrunde sogar ganz recht, um in deren Windschatten Entscheidungen zu treffen, die EU-Europa nachhaltig beeinflussen werden: Offiziell wurde in Brüssel die neue "Sicherheits"strategie bestätigt. Nicht um Krisenprävention, nicht um effiziente Entwicklungshilfe oder stabilisierende Diplomatie geht es dabei. Vielmehr soll Europa mit Rüstungsagentur, Eingreiftruppe und Planungsstab zu einer Militärmacht umgebaut werden, die weltweit zu "robusten" Interventionen fähig ist. Und ausdrücklich soll dies nicht gegen, sondern mit der NATO und den USA geschehen - als Erfüllungsgehilfe beim Vollzug amerikanischer Weltinteressen. So oder mit einem Markt-Europa wird es ohnehin kein "Europa" geben, mit dem sich seine Bürger wirklich identifizieren könnten. Und das ist das eigentliche Problem: Ohne solche Identifikationsmöglichkeiten, ohne soziale Idee wird die europäische Integration für sehr viele eine fremde Vorstellung bleiben. Das ist die eigentliche, die völlig ignorierte europäische Krise, die sich aber längst an den Wahlurnen gezeigt hat und sich am 13. Juni 2004 wieder zeigen wird.
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