Links von allen -oder fähig zum strategischen Projekt?

Dokument der Woche Vortrag vor dem Politischen Klub der Evangelischen Akademie Tutzing

Der Europaparlamentarier André Brie plädiert dafür, dass die Linkspartei bereits vor der Bundestagswahl 2009 die Voraussetzungen schafft für ein Mitte-Links-Bündnis auf Bundesebene. Es gehe darum, ob und wie eine strukturelle linke Mehrheit in eine politisch handlungsfähige Mehrheit (s. auch Freitag 45/07) verwandelt werden könne. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Selbstdefinition seiner Partei klar links von allen anderen und der erklärten Absicht, zu einem neuen politischen Projekt in Deutschland beizutragen, war Thema eines Vortrages, den Brie am 17. November vor der Evangelischen Akademie Tutzing hielt. Wir dokumentieren seine Ausführungen in einer gekürzten und bearbeiteten Form.

Es spricht zur Zeit wenig dafür, dass ein Mitte-Links-Bündnis, eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene eingeschlossen, bereits 2009 Realität wird, aber sie ist auch nicht mehr auszuschließen. Das Hindernis dafür heißt nicht Oskar Lafontaine - ein zwar psychologisch für die SPD-Führung verständliches, aber politisch lächerliches Argument. Dass Problem liegt in der noch relativ geringen gesellschaftlichen Akzeptanz eines solchen Bündnisses und im Fehlen konkreter programmatischer Grundlagen bei den potenziellen Partnern. Das Beispiel Berlins mit seiner besonderen Geschichte zeigt jedoch, dass sich in sehr kurzer Zeit die Bedingungen gravierend ändern können.

Ohnehin ist Bewegung in die Gesellschaft und in die Wähler gekommen, in gewissem Maße auch in die SPD und die Grünen. Perspektivisch hat die Zusammenarbeit zwischen Linker und SPD eine klare Grundlage. Die Linke sollte daher die Sozialdemokraten schon jetzt nicht aus der Verantwortung entlassen und programmatische Angebote deutlich vor der Bundestagwahl 2009 vorlegen.

Denn in Deutschland zeigen sich Indikatoren eines politischen Wechsels - der tiefe Pessimismus bezogen auf die eigenen Lebensperspektiven bei größeren Teilen der Bevölkerung, die wachsende Distanz zu den politischen Institutionen, die als Instrumente einer unsozialen Politik gesehen werden, und die mehrheitliche Unterstützung alternativer Forderungen gehören dazu. Ende 2006 waren zwei Drittel der Bevölkerung der Auffassung, dass es in diesem Land ungerecht zugehe, ein Drittel sah sich auf der Verliererseite. Erstmals waren mehr Bürger mit der Funktionsweise der Demokratie in Deutschland unzufrieden als zufrieden. Den Wirtschaftsaufschwung spürten vorzugsweise die Bessergestellten, aber fast alle fühlen sich durch die allgemeine Unsicherheit bedroht.

"Deutschland rückt nach links" titelte Die Zeit am 9. August 2007 und zitierte Umfrageergebnisse, wonach jeweils große Mehrheiten den Forderungen der Partei Die Linke (Mindestlohn, Rückzug aus Afghanistan, Verzicht auf die Rente mit 67) zustimmten. In einer abstrakten, keinesfalls automatisch abrufbaren Form ist der Nährboden für eine strukturelle linke Mehrheit entstanden, die zwar heterogen ist, sich aber mit dem Wunsch nach einer grundsätzlich anderen Politik wie starker Skepsis verbindet, ob diese andere Politik möglich ist.

In schonungsloser Weise realistisch

Im Protest gegen die Agenda 2010 hat sich die Linke in Deutschland neu formiert und das Parteiensystem erschüttert. Dabei ist die Linkspartei kein Fossil aus vergangenen Zeiten, sondern eine Neugründung, die während einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus zustande kam. Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer von Emnid, bilanziert: "Die Aussortierten haben mit Hartz IV endlich ein Symbol für Wut und Willen, sich für ihren linken Traum von der anderen Gesellschaft zu engagieren. Plötzlich ist nicht mehr Ducken die Reaktion, sondern offene Opposition... Aus der Protestpartei PDS wurde die Programmpartei Die Linke, weil diese im Osten die Ziele der ›guten alten SPD‹ hoch hält."

Auch andere Gegenkräfte sind - teilweise dank neuer Freiräume, die durch den Aufstieg der Linkspartei entstanden - stärker geworden. Es gibt eine gewisse Politisierung der Gewerkschaften, die globalisierungskritische Bewegung hat mehr Einfluss - der Druck erreicht die Parteien, wie die Beschlüsse der Grünen in Nürnberg und der SPD in Hamburg zeigen.

Für die Linke hat gesellschaftlicher Protest geschichtlich immer eine besondere Rolle gespielt. Gibt sie die auf, wird sie darin nicht mehr erkennbar, hat das seinen Preis, wie in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zu erfahren war. In der Reduzierung auf Protest liegen freilich auch große Gefahren für die Linke: Sie könnte zwar in den nächsten Jahren ein Wählerpotenzial von zehn oder mehr Prozent sichern, doch hat eine reine Protestpartei allein keine Perspektive. Die Wähler erwarten eher früher als später reale Veränderungen. Protest, der nicht auf realistische Alternativen zurückgreift, verfestigt zudem einen grassierenden Pessimismus oder erweist sich als anfällig, von rechtsaußen instrumentalisiert zu werden.

Außerdem würde eine solche Verengung eine Rückkehr zu linker Orthodoxie begünstigen und in die Sackgasse politischer Wirkungslosigkeit führen. Eine weitere Gefahr würde darin bestehen, mit einer partiellen Veränderung der Politik - etwa einer Rückkehr der SPD zu ihren sozialen Ursprüngen - überflüssig zu werden. Dietmar Bartsch, Bundesgeschäftsführer der Linken, verwies darauf vor einigen Wochen bei seiner Bilanz zu 100 Tagen Linkspartei, wenngleich mit einem Augenzwinkern, als er sagte, es wäre doch nicht schlimm, wenn sich die Linke überflüssig machte, indem sie den Mindestlohn, die Überwindung von Hartz IV, die Korrektur der Rente mit 67 und den Rückzug deutscher Truppen aus internationalen Interventionen erreichte. Letztlich bliebe für die Linke dann nur eine zeitweilige Funktion als Mehrheitsbeschaffer der SPD, nicht aber als politische Kraft in einem weiterreichenden politischen Wandel.

Daher geht es um die nachhaltige Etablierung eines neuen linken Parteitypus, um eine Stringenz linker Politik in politischer und parlamentarischer Opposition wie in einer Mitte-Links-Allianz gleichermaßen. Die Linke muss fähig sein, politische Alternativität und konsequenten Realismus miteinander zu versöhnen - vermutlich das größte Problem für eine Regierungsbeteiligung: Sie muss im Bündnis mit anderen Parteien ihr über eine Koalitionsvereinbarung weit hinausgehendes, unterscheidbares Profil bewahren. Bei ihren bisherigen Koalitionen in Schwerin und Berlin ist der PDS das nicht überzeugend gelungen, wobei Landespolitik für die Linke, die sich wesentlich über die zentralen gesellschaftspolitischen Fragen definiert, ohnehin ein schwieriger Ort für Selbstbehauptung ist.

Um es klar zu sagen, die Verantwortung der neuen Linken erschöpft sich nicht darin, eine gewisse sozialdemokratische Korrektur der Politik zu bewirken - sie steht für das strategische Projekt eines grundlegenden Wandels in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa.

Das wird nicht in einem einzigen Schritt möglich sein, von Wahlergebnissen und dem öffentlichen Klima abhängen, zu problematischen Kompromissen und Korrekturen zwingen - in schonungsloser Weise Realismus abfordern. Er darf weder dazu führen, weiterreichende Ziele noch die eigenen Wähler aus dem Auge zu verlieren, weil die Linke bei ihnen den Eindruck erweckt hat, mit ihr würde alles und alles sofort anders. Aber das Profil, um all dem gewachsen zu sein, müssen wir erst noch finden.

Es wird kein linkes Modell mehr geben

Weil die neue Partei Die Linke weder einem Anschluss der WASG an die PDS noch einer bloßen Fusion zu verdanken ist, sondern eine wirkliche Neugründung bedeutet, muss ihre programmatische und kulturelle Selbstdefinition praktisch auch wieder neu begonnen werden, wenngleich die Potenziale der PDS dabei gewiss einfließen werden. Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen, was nicht anders möglich war, um die Bildung der Partei nicht zu gefährden. Dies stellt für die Linke selbst, für ihre Wähler, für ihre Partner und Kontrahenten ein beträchtliches Problem dar, das aber im direkten Zusammenhang mit einem möglichen Angebot für ein Mitte-Links-Bündnis in der kurzen Zeit vor der Bundestagswahl 2009 gelöst werden muss.

Dazu sollte die Linke auf die Versuchung verzichten, orthodoxe Modelle reanimieren zu wollen. André Gorz und Otto Kallscheuer schrieben in ihrer Einleitung zu Gorz´ Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Sozialismus, dass "die soziale Frage, die demokratische Frage, die ökonomische Frage und die Freiheitsdimension kultureller Autonomie", die sozialistischen Fragen des 18., des 19. und des 21. Jahrhunderts (die ökologische Krise und der Welthunger) fortbestünden und sich verknüpften. Sie meinten, "für ihre Lösung aber gibt es keinen Generalnenner mehr, keine ›endlich gefundene Form‹ (wie Marx dies von der Pariser Kommune als Zukunftsmodell annahm)". Sie warnten: "Aus der Übermacht der Fragen ohne Antwort erwächst die Sehnsucht nach fundamentalistischen Gewissheiten ohne Fragen."

Die Linke wird sich gegen eine solche Sehnsucht nur schützen können, indem sie einer politischen Kultur des Pluralismus ebenso wie einer libertären Orientierung und einem konsequent emanzipatorischen Politikverständnis folgt. In der PDS war das ein Dauerthema. Aber anders ist linke Politik nicht mehr möglich, anders wird die Linke auch kein Partner für SPD, Grüne, Gewerkschaften oder wen auch immer.

Es wird kein linkes Modell mehr geben - nicht aus der Vergangenheit, nicht aus der Gegenwart, nicht aus Europa, Asien oder Lateinamerika -, in das die widersprüchliche Realität von Gesellschaft, Wirtschaft und Individuum wie in ein Prokrustesbett gezwungen wird. Das macht die eigene politische Selbstdefinition unbequem, aber die Linke offen, konstruktiv und zukunftsfähig.

Damit sollten SPD und Grüne rechnen

Wenn die Politik der letzten zwei Jahrzehnte an ihr Ende gekommen ist, weil ihre Reformpotenziale erschöpft sind, weil sie zu massenhafter sozialer Exklusion geführt und eine Reproduktions-, Demokratie- und Sicherheitskrise ausgelöst hat, dann geht es für die Linke nicht nur um einzelne Korrekturen, sondern um nicht mehr und nicht weniger als um einen politischen Richtungswechsel. Seine zentralen Elemente werden nach meiner Überzeugung eine moderne Wiedergewinnung des Öffentlichen und des Gemeinwohls, gesellschaftliche Solidarität, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit sein müssen: Reclaim the Public! Der amerikanische Philosoph John Rawls meinte 1979 in seiner Theorie der Gerechtigkeit: "Ich behaupte, dass die Menschen im [gedachten] Urzustand zwei ... Grundsätze wählen würden: einmal die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben ..."

Die vier viel diskutierten Forderungen Oskar Lafontaines an die SPD bieten für eine solche Strategie nicht nur einen tagespolitischen Ausgangspunkt, wenn sie auf den erwähnten Richtungswechsel ausgerichtet werden.

So meine ich, dass bei Hartz IV tatsächlich sofortige Korrekturen vor allem in der Höhe der Beihilfe wie bei der Überwindung einer entwürdigenden Abhängigkeit nötig sind. Die Linke sollte jedoch nicht die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe in Frage stellen, sondern sich dafür einsetzen, daraus längerfristig eine bedarfsunabhängige Grundsicherung für alle zu entwickeln.

Die Linke will eben nicht auf etatistische Sozialpolitik zurück-, sondern den soziokulturellen Wandel der Gesellschaft und die Möglichkeiten selbstbestimmter Entwicklung aufgreifen. Das Öffentliche ist nicht "der Staat", sondern die partizipative Verbindung von Individuen miteinander, durch das etwas entsteht, was keiner für sich hat: Solidarität, sozialer Zusammenhalt, demokratische Öffentlichkeit, die der Staat nicht erzeugen kann, aber ermöglichen muss.

Das in der PDS weit vorangetriebene Konzept eines geförderten Beschäftigungssektors - jenseits von Öffentlichem Dienst und privater Wirtschaft - für soziale und ökologische Dienstleistungen geht in eine ähnliche Richtung und kann zu einer neuen Vollbeschäftigung auf sozial würdiger Grundlage verhelfen.

Die politischen Wettbewerber der Linken werden natürlich auch mit Forderungen nach stärkerer Verteilungs- und Steuergerechtigkeit konfrontiert, nach regulierten Finanzmärkten, einer anderen Umwelt- und Energiepolitik, wie sie etwa von Hermann Scheer vertreten wird, nach mehr Bürgerrechten und einer anderen Schule, die Solidarität fördert und auf ein sinnvolles Leben vorbereitet. Den politischen Willen der Beteiligten vorausgesetzt, scheinen mir da ausreichend große Schnittmengen mit der SPD und den Grünen durchaus möglich zu sein.

Das größte Problem, das SPD, Grüne und die Linke miteinander haben, wird sich zweifelsohne in der Außen- und Sicherheitspolitik stellen. Ich habe zur Zeit darauf keine Antwort, aber danach muss in der Linken gesucht werden. Ich teile die Kritik meiner Partei an der gegenwärtigen internationalen Politik der Bundesregierung. Angesichts des offensichtlichen Versagens von Interventionen wie in Afghanistan oder im Irak sind wesentliche Veränderungen nötig. Aber es ist auch klar, dass Außenpolitik anderen Bedingungen unterliegt als innergesellschaftliche Politik. Auf jeden Fall sind die derzeitigen außenpolitischen Vorstellungen der Linken grundsätzlich nicht mit denen von SPD und Grünen kompatibel. Ob daran ein Mitte-Links-Bündnis scheitert, welche Veränderungen einerseits bei der Linken, andererseits bei SPD und Grünen möglich und akzeptabel sind, bleibt offen.

Ich bin dennoch überzeugt, die Linke verfügt über das Potenzial für einen Beitrag zu Mitte-Links. SPD und Grüne sollten sich darauf einstellen, dass die Linke ihre Voraussetzungen dafür schaffen wird.

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