Die Kunst zu kleben

Trend Vergesst Graffiti, hier kommt Tape Art. Motoren dieser neuen Kunstbewegung sind das Berliner Fachgeschäft Klebeland sowie Künstler wie El Bocho und Buff Diss

Jemand hockt auf dem Boden, reißt Unmengen von Industrieklebeband ab und bringt es auf den Asphalt, um daraus ein Bild zu gestalten. Die Rede ist von Tape Art, einer neuen Form von Street Art – also jener Kunst, die im öffentlichen Raum zu sehen ist, etwa an Laternen, Stromkästen, Verkehrsschildern oder Wänden.

Dazu zählen Aufkleber, Poster, Fotografien, Kalligrafien, gemalte Bilder aber auch das öffentlich verschriene Graffiti. Es braucht nicht viel, um dieser Kunstform nachzugehen: ein Klebeband, ein Messer für die Feinarbeiten und mitunter einen Handschuh, weil viel Druck mit den Handflächen aufgewendet werden muss, ehe das Tape auf Straßen oder Wänden haftet. Diese Klebetechnik ist seit diesem Sommer in Deutschland populär und vor allem in Berlin vermehrt zu sehen.

„Street Art hilft, Kunst zu emanzipieren. Denn Kunst sollte nicht nur in Galerien zu sehen sein. Eine Demo findet ja auch auf den Straßen und nicht in einem gläsernen Palast statt“, sagt BRNA. Der 21-jährige Medieninformatik-Student hat vor zwei Jahren mit Tape Art begonnen und ist inspiriert von den Größen der Szene, die sich Buff Diss oder El Bocho nennen.

BRNA lebt in Berlin, dort sind auch die meisten seiner Tape-Arbeiten zu sehen. „Ich gehe auf den Straßen entlang und schaue, wo es große, glatte Steine gibt. Dann wird sofort geklebt“, sagt BRNA. Seine Bilder sind zumeist ein bis zwei Quadratmeter groß – so groß, wie die Spannweite seiner Arme. „Tape Art ist Saisonarbeit. Denn bei Dreck und Nässe lösen sich die Bilder sehr schnell“, sagt BRNA.

Tapes für beinahe jedes Wetter und Anliegen hat Timm Zolpys. Der 30-jährige studierte Politikwissenschaftler hat im Februar dieses Jahres das Klebeland in Berlin eröffnet – Deutschlands erster und einziger Laden, der ausschließlich Klebebänder verkauft. Der Fachhandel führt über 2.000 verschiedene Klebeprodukte – angefangen bei Armeepanzer- und Gaffaband, über Isolier-, Klett- sowie Paketklebeband, endend bei Vulkanisierband.


15 Kilometer

Die billigste Rolle kostet 50 Cent, die teuerste über 100 Euro. Zu seinen Kunden zählen Hausfrauen, die ihren Gartenschlauch flicken wollen, Motorradfahrer, die ihren Sattel zukleben möchten oder Werkstätten, wie die des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Aber vor allem Street Art-Künstler haben im Klebeland ihr neues El Dorado gefunden. Im Juli ergab sich ein Kontakt zwischen Zolpys und El Bocho, einem Street Art-Künstler aus Berlin.

Die beiden entwickelten eine wahnwitzige Idee: El Bocho hat im Rahmen eines Street Art-Festivals eine monströse Werbebotschaft für "Klebeland" an die Fassade eines alten Schwimmbads geklebt. Das Motiv, ein comicartiges Frauengesicht samt Schriftzug "And then we take Berlin", ist auf der 1.100 Quadratmeter großen Fassade angebracht und das derzeit größte Tape Art-Bild der Welt. Zwei Wochen hat es gedauert, das Frauengesicht an die Wand zu kleben, 15 Kilometer Klebeband wurden dabei verbraucht.

El Bocho war schon vor dem Weltrekord weltweit bekannt für seine Arbeiten. Der 31-jährige Illustrator und Typograph glaubt, dass Tape Art so populär wie Graffiti werden kann. Noch steckt Tape Art in Deutschland in den Kinderschuhen. Aber seit El Bocho´s Weltrekord ist hierzulande viel geschehen: Weitere Künstler haben sich ans Kleben gemacht und Buff Diss, einer der weltweiten Pioniere, wohnt seit Anfang November in Berlin. Wie so viele Street Art-Künstler, hat der 26-jährige Australier früher Graffitis gemalt, sich aber vor vier Jahren der Tape Art verschrieben.

Keine Sachbeschädigung

„Damals wollte ich ein Graffiti malen, doch die Wand war so schlecht, dass die Farben nicht gehalten haben. Also habe ich Klebeband benutzt, um die Konturen des Bildes aufzutragen. Dann fand ich es cool und habe einfach mit dem Tape weitergearbeitet“, sagt Buff Diss. Das hat ihn neben Aakash Nihalani aus New York und L´Atlas aus Paris zu den weltweiten Pionieren gemacht. Mittlerweile wird Tape Art zusehends populär: Im Rahmen der MTV European Music Awards, die am 5. November in Berlin stattfanden, wurde Buff Diss beauftragt, in einem Hangar am Flughafen Tempelhof ein Bild zu kleben. Jugendliche aus ganz Europa haben dabei zugeschaut und werden kopieren, was sie gesehen haben.

Vor der Polizei müssen sich die Tape Artists nur bedingt fürchten. Denn beim Tapen handelt es sich zwar um eine Ordnungswidrigkeit, jedoch nicht um Sachbeschädigung. Tape Art wird also strafrechtlich nicht verfolgt. Immerhin wird die angegriffene Substanz nicht beschädigt, sondern nur verunreinigt. Hausbesitzer können aufatmen, „da wir die Jugend dazu bringen, die Spraydosen wegzulegen und Klebeband zu benutzen, um sich auszudrücken. Und dieses Tape lässt sich rückstandslos entfernen“, sagt Zolpys. Im nächsten Jahr will er die erste reine Tape Art-Ausstellung initiieren. Ein Ansprechpartner ist dabei die ATM Gallery in Berlin, die sich als Übersetzer und Vermittler von Kunst aus dem öffentlichen Raum versteht.

Hier findet die Street Art-Szene ihren Platz fernab der Straße. „Noch vor drei Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich Menschen auf den Boden hocken und teures Klebeband auf die Straßen bringen“, sagt BRNA und geht raus auf die Straße, um einen geeigneten Platz für sein nächstes Bild zu finden.

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