Als das ungarische Parlament Ende 2001 Teile des Strafgesetzbuches novellierte, um EU-kompatibel zu sein, legten die regierenden Jungdemokraten (FIDESZ) von Premier Viktor Orbán zugleich ein Reformpapier vor, das in Sachen Kriminalitätsbekämpfung EU-Normen entsprach und die Anti-Terror-Kampagne hofierte. Die Tatbestände Volksverhetzung oder Gewalt gegen religiöse Minderheiten wurden dabei nicht erwähnt, obwohl die osteuropäischen EU-Aspiranten auch in dieser Hinsicht Erwartungen Brüssels bedienen müssen. Gerade in Ungarn grassiert ein politischer Antisemitismus, der im Vorfeld der Parlamentswahlen am 7. April bedenkliche Züge annimmt.
Vor zwölf Jahren erschienen in Ungarn die ersten offen judenfeindlichen Texte. Während des Wahlkampfes äußerte 1990 der Lyriker Sándor Csoóri, damals ein Führer des an die Mcht strebenden Demokratischen Forums (MDF): "Das liberale ungarische Judentum möchte in Stil und Denkweise das Magyarentum assimilieren. Zu diesem Zweck ist es ihm gelungen, sich ein noch nie da gewesenes parlamentarisches Sprungbrett zusammenzuzimmern." Gemeint war der Bund Freier Demokraten (SZDSZ) - eine Partei, die aus der Bürgerbewegung entstanden war und seinerzeit auf 20 Prozent der Wählerstimmen kam. Csoóri löste einen Riesenskandal aus, prominente Kollegen distanzierten sich - ein Diskurs auf dieser Ebene war unappetitlich und völlig undenkbar.
Während der sozialistischen Ära wurden jüdische Themen zumindest in ihrem Bezug zur ungarischen Geschichte unter den Tisch gekehrt. Mitbürger mosaischen Glaubens galten eindeutig als ungarisch, allein Kohn und Grün, den jüdischen Protagonisten der Witze, war es erlaubt, zwischen Wirklichkeit, Propaganda und Utopie einen Faden der Wahrheit zu spinnen. Ansonsten zeugte nur eine auffällige Polizeipräsenz um die Budapester Hauptsynagoge in der Dohány Straße während jüdischer Feiertage davon, dass die ungarischen Juden ab und an einen Schutzpatron brauchten.
Heute würde Csoóris Satz beinahe moderat klingen. Ungarn ist mittlerweile ganz andere Töne gewöhnt. So schildert der Geistliche Lóránt Hegedüs, Abgeordneter der rechtsradikalen Partei für Wahrheit und Leben (MIEP), in einem Pamphlet den "leidvollen Weg der ungarischen Nation", die sich gegenüber Türken und Habsburgern behaupten musste, wie folgt: "All dies hätte der christliche ungarische Staat verkraften können, wenn das Land nicht Scharen der Hergelaufenen aus Galizien überflutet hätten. Sie zehrten und zehren immer noch an der in den Ruinen liegenden, jedoch zur Auferstehung immer fähigen ungarischen Heimat. (...) So höre Ungar: Grenze sie aus, wenn Du dies nicht tust, werden sie Dir das Gleiche antun!"
Tibór Franka, ein anderer MIEP-Parlamentarier, nutzte einen Auftritt in Radio Kossuth - einer Anstalt des öffentlichen Rechts -, um die "jüdische Rasse" zu charakterisieren: "Bei diesen Leuten tröpfelt die Nase, ihre Ohren liegen tiefer als die Nasenläppchen und sie schmatzen". Weiter schlägt er vor, dass "diejenigen Staatsbürger, die sich hierzulande nicht wohl fühlen, ihre Pässe unter ihre Achselhöhle nehmen und Ungarn für immer verlassen ..."
Abseitsfalle
Schließlich donnert István Lovas, der Starpublizist der ungarischen Rechten, gegen Imre Kertész, einen der bedeutendsten Autoren Ungarns, weil dieser angeblich die Zahl der 1944 deportierten Juden "verdoppelt und der ungarischen Gendarmerie in die Schuhe geschoben" habe. "Angesichts der Tatsache", so Lovas, "dass es um einen Menschen geht, bei dem sich nach eigenem Bekenntnis alle Gedanken um Auschwitz drehen, ist in seinem Fall die Lüge das, was das Wort zum Ausdruck bringt: beabsichtigt und bewusst. "
Die Ungarn sind, wie bekannt, begeisterte Fußballfans und können dem gegenüber, was auf dem grünen Rasen geschieht, unmöglich kalt bleiben. Traditionell gibt es zwei renommierte Clubs: Fradi (benannt nach Franzstadt, der einstigen Bezeichnung für den 9. Budapester Bezirk) und MTK. Es ist eher Legende als wirkliche Fußballgeschichte, dass einmal die Crew von Fradi "rein ungarisch" und die von MTK "jüdisch" war. Dennoch schien ab Mitte der achtziger Jahre bei manchem Spiel eine erhitzte Tribünenatmosphäre auch "rassisch" grundiert zu sein.
Als es dann mit dem Systembruch ab 1990 einzelnen Unternehmern erlaubt war, ganze Clubs zu kaufen - angesichts der finanziellen Auszehrung des ungarischen Fußballs eine verdienstvolle Sache -, avancierte der Geschäftsführer der Telekommunikations-Firma Fotex AG, Gábor Várszegi, zunächst zum Mehrheitsgesellschafter bei MTK und ab Sommer 2001 auch bei dessen Kontrahenten Fradi. Durch einen Einsatz von umgerechnet 20 Millionen Euro sah sich letzterer vor dem Konkurs gerettet. Eine Transaktion, über die sich zweifellos streiten ließ, doch spielten in den sich anschließenden hitzigen Debatten weder finanzielle noch moralische Erwägungen eine Rolle, es ging allein um die Tatsache, dass der neue Eigentümer Gábor Várszegi ein bekennender Jude war, der bereits beim "jüdischen" MTK im Chefsessel saß. Gleich nach Bekanntgabe des Fradi-Verkaufs machte MIÉP-Vizepräsident László Bognár von sich reden, indem er auf einer Pressekonferenz die Fotex AG folgendermaßen beschrieb: "Ein hemmungsloser Kreis von Geschäftsleuten; sie reißen sich jetzt die Mannschaft unter die Krallen und haben nichts mit dem Ungartum zu tun. Dieser Verkauf ist ein Akt der Schande, ... eine Affäre, die gegen die Nation gerichtet ist. Die Fußballer (des Fradi - A. D.) fühlten sich immer als einfache Kinder des braven Volkes gegenüber denjenigen, die in der sozialen Hierarchie höher stehen und mit dem Begriff Juden erfasst werden können."
Ein Politikum ersten Grades. Um so erstaunlicher, dass Justizministerin Ibolya Dávid auf eine Journalistenfrage zu Bognárs Äußerung lediglich anmerkte: "Ich verstehe nichts vom Sport". Als Premier Orbán im Parlament zur Rede gestellt wurde, gab es ein schiefes Sprachbild zu bewundern: "Die aufgewühlten Leidenschaften sind halt in eine unerwünschte Richtung entgleist."
Bestsellerliste
Bognárs Partei MIEP, deren Vorsitzender István Csurka durch seine antisemitischen Äußerungen auch im Westen bekannt ist, gibt unter anderem die Wochenschrift Magyar Fórum heraus. In ihrer Weihnachtsausgabe 2001 warb sie, dem Anlass gemäß, mit einem dekorativen Tannenbaum, der mit Büchern behängt war - allesamt zur Feier der Menschenliebe als Lektüre empfohlen. Das Stilleben "Baum mit Bestsellerliste" beherbergte unter anderem: Henry Ford Der internationale Jude; H. S. Chamberlain: Die Erscheinung der Juden in der Geschichte des Westens; Hermann Fehst: Bolschewismus und Judentum; Benito Mussolini: Doktrin des Faschismus; Zoltán Bosnyák Die Verjudung Ungarns; Johannes Öhquis: Das Reich des Führers. Auch Musikliebhaber kamen nicht zu kurz: Liedersammlungen aus den Jahren 1910-1943 wie Kommt her, ihr mit Kranichfedern geschmückte Burschen oder Originalaufnahmen der königlichen Honvéd-Armee, mit denen Heldentaten des Reichsverwesers Miklós von Horthy während des Russlandfeldzuges besungen werden, komplettierten das Angebot. Eine Anzeige ließ wissen, in jeder besseren/rechten (für die beiden Ausdrücke verwendet die ungarische Sprache das gleiche Beiwort) Buchhandlung seien "die Werke" erhältlich.
Tatsächlich braucht man in Budapest keine große Entdeckungstour, um diesen Geschmack zu bedienen. Ein ansonsten "normales" Geschäft am Calvinplatz im Zentrum bietet bereits im Schaufenster alles an, was den Wissens- und Erinnerungsdurst der Rechten stillt. Als neuester Hit gelten übrigens ein Buch von Ferenc Szálasi, dem Führer der ungarischen Pfeilkreuzler, der für die Ermordung der Budapester Juden verantwortlich war und 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde, und die Reprintausgabe von Die Rolle des Judentums im ungarischen Geistesleben, 1943 verfasst durch den faschistischen Kulturfunktionär Mihály Kolosváry Borcsa, der in seiner Amtszeit Tausende jüdischer Bücher verbrennen ließ.
Die Jüdischen Gemeinden Ungarns erstatteten bereits mehrere Anzeigen beim Obersten Gericht gegen den Vertrieb derartiger Machwerke. Doch schienen die Richter ein anderes Ungarisch zu sprechen. Während sich die Kläger auf den Tatbestand der Hetze mit der Begründung beriefen, dass die Veröffentlichung etwa des erwähnten Handbuchs sowohl gegen sakrale wie persönliche Rechte verstoße, nahm die Justiz daran keinen Anstoß - ihr Urteil: Nicht strafbar.
Wahltaktik
Es mag für einen Politiker der rechtskonservativen FIDESZ eine Privatangelegenheit sein, ob man zu Hause im Bücherregal Kostproben dieser Bestseller besitzt und ob man sie mit Begeisterung liest oder empört beiseite legt. Es kommt letztlich darauf an, welche Schlussfolgerungen einer daraus in der Öffentlichkeit zieht.
Wenn László Kövér als FIDESZ -Parteichef in einer Podiumsdiskussion über die "jüdische Frage in Ungarn" philosophiert und meint, dieses Thema sei durchaus salonfähig, entsteht die Frage, ob nicht eher über das Thema des politischen Antisemitismus gestritten werden sollte. Doch auch die Historikerin Mária Schmidt, Beraterin von Premier Orbán, spricht in einer Budapester Zeitung von der "beispiellosen Karriere der Bezeichnung Holocaust" und schlägt vor, dass für andere Genozide ebenfalls der Ausdruck Holocaust als "eine Art Schutzmarke" verwendet werden solle. Nach diesem Jonglieren mit Patenten kommt sie zu einem Fazit, das bereits Jean-Marie Le Pen gezogen hatte: Der Holocaust sei im Zweiten Weltkrieg sowieso nur "eine Episode" gewesen. Nur ist Le Pen keine Ratgeber des französischen Premiers, und selbst eingefleischte Konservative fühlen sich in Frankreich nicht auf die Unterstützung des Front National (FN) angewiesen.
Der einst liberale Bund der Jungdemokraten (FIDESZ) ist seit seinem Wahlsieg 1998 (s. unten) zur konservativen Sammlungsbewegung mutiert, die es verstand, Medien zu okkupieren oder - besser gesagt - mit dem "zweiten Sieger" des 98er Votums, István Csurkas MIEP, zu teilen, dessen Wahrheitspartei seinerzeit von 1,5 Prozent (Wahlen ´94) auf 5,5 Prozent sprang. Daraus entstand eine Zweckallianz FIDESZ-MIEP, die sich zunächst durch militante Angriffe auf die Vorgängerkoalition aus Freien Liberalen (SZDSZ) und Sozialistischer Partei (MSZP) ein belastbares Fundament der Kooperation schuf.
Dabei war es nicht ohne Belang, dass die Ära Orbán mit den Feierlichkeiten zum tausendjährigen Bestehen des christlichen Königreichs Ungarn verwoben war. Das nationale Erbe erlebte eine einmalige Aufwertung, was für Csurkas Partei neue Perspektiven eröffnete. Was sich nicht auf die Schablone "Die Heiligen Könige" oder "Die ruhmvolle Geschichte des Landes als Bastion der europäischen Zivilisation" zuschneiden ließ, galt als verdächtig.
Die FIDESZ weiß sehr wohl, dass sie bei den am 9. April anstehenden Neuwahlen zum Parlament auf Wählerstimmen der nur quasi oppositionellen MIEP angewiesen sein könnte. Es liegt daher nicht in ihrem Interesse, die Hybris der extremen Rechte auch nur ansatzweise zu attackieren. Das verbietet die Wahltaktik, auch wenn die politische Kultur des Landes leidet und die Luft konsequent mit Nazi-"Gedankengut" vergiftet wird. Darauf spielten offensichtlich liberale Parlamentarier an, als sie vor kurzem bei einer Parlamentssitzung mit Atemschutzmasken erschienen. Eine sanfte, jedoch sehr angemessene Reaktion gegen die Hetzreden eines Csurka oder anderer Lichtgestalten der MIEP.
Wer auch immer bei den kommenden Wahlen siegt - es muss dringend jene kontaminierte Atmosphäre überwunden werden, die derzeit spüren lässt, wie dünn auch in Ungarn die Glasur der Zivilisation ist. Es geht nicht um ein kurzfristiges Aufatmen, sondern einen inneren Weg, den das Land zur EU finden muss.
Mandatsverteilung im Parlament nach den Wahlen 1994 und 1998
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