Es ist eine Binsenweisheit, dass Liebe, oder genauer gesagt Eros, sich am Fruchtbarsten entwickelt, wenn irgendein Hindernis im Weg steht. „Eros is a triangle“, schreibt die Dichterin Anne Carson, er bestehe aus zwei Personen, lover and beloved, und dem, was sie trennt. Eine schöne Trinität.
Das Hindernis im Fall von Lothar und Mary Lou Mackay ist ein Keuschheitsgelübde. Der engelsgleich gelockte und von Frauen reichlich begehrte Lothar hat es abgelegt, als er vom Studienfach Theaterwissenschaft zur katholischen Theologie wechselte, und schon Jeannine Waterstrandt, seine Ex-Freundin, hat dran glauben müssen.
Die suspense des Romans, wenn es denn eine gibt, besteht nun darin, dass man wissen will, ob Lothar durchhält, wo doch er und Mary Lou in großer Leidenschaft füreinander entbrannt sind und sich im Laufe der Geschichte immer mehr an und vor allem unter die Wäsche gehen. Kriegen sie sich trotz allem? Haben sie sich nicht sowieso schon – auch oder gerade wegen – „ohne Sex“? Wir werden sehen.
Zitatwuste wie Zuckerwatte
Zwischendrin aber ist viel Zitat. Thomas Meinecke schreibt bekanntlich Bücher so, wie er Platten auflegt: er sampelt. Seine Romane sind Collagen der Texte, Filme, Interviews, die sich gerade in seiner Reichweite befinden, und das sind viele.
Hinzu kommt das Internet als unerschöpflicher Textgenerator. Der Plot des Romans selbst bleibt ein dürres Gerüst, um das sich die Zitatwuste wie Zuckerwatte wickeln, und die Personen, die auftreten, fungieren lediglich als Träger dessen, was sie lesen, folglich zitieren und mit bibliografischen Angaben und den denkbar abseitigsten flankierenden Informationen versehen.
Zum Personal in Jungfrau gehören, neben Lothar, Mary Lou und der verlassenen Jeannine, noch Gustave und Concordia, die sich durch katholische Theologie nicht von sinnlichen Genüssen abbringen lassen, Lothars Mitbewohnerin Katherine Schmeller samt einigen Geliebten und einer Mutter – und alle lesen oder sind sonst wie in zu Adjektivtürmen aufzubauende Bezüge verwickelt.
So erfahren wir im Laufe des Textes viel über die Jazzmusikerin Jutta Hipp und die Schauspieler Maria und Mario Montez, über Hubert Fichte und Terror in der Dominikanischen Republik, über katholische Gefühlsexzesse Paul Claudels und sein Theaterstück Der Seidene Schuh. Clemens von Brentano kommt auch irgendwo vor, und natürlich kommen alle möglichen Kulturwissenschaftler vor, die man selbst vom Studium her kennt, Filme, die man gesehen und Artikel, die man schon gelesen hat.
Herzstück der ganzen Zitiererei aber sind Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr – in ihrer keuschen und sehr innigen „Partikularbeziehung“ spiegelbildlich zu Lothar und Mary Lou aufgebaut.
Über Jahre hinweg hat Hans Urs von Balthasar die Heiligenvisionen der verheirateten Ärztin Adrienne von Speyr aufgezeichnet, und was da und in Lothars umliegenden katholischen Recherchen an Zitaten zusammenkommt, ergibt ein sehr erbauliches Kuriositätensample, vor allem natürlich, was das Geschlechtliche betrifft.
Das reicht von Jesus lactans, der Hostie als Christussäugling über die durchaus mögliche Wiederherstellung von Jungfräulichkeit bis hin zu hübschen Sätzen wie: „In der Eucharistie schenkt uns der Herr eine Substanz so, dass er das Brot durch sein Wort in Fleisch verwandelt ... in einer Analogie zum Geschlechtsakt, worin das Weib das Brot wäre, dem der Mann seinen Samen einsenkt, und es Fleisch werden lässt.“ Oder: „Durch ihre Brust bleibt die Frau eine Art Brücke zum Paradies.“
Variabler Geschlechterdualismus
Sampeln ist schön, und das Gute an Meineckes Roman ist, dass er vorführt, wie queer Katholizismus ist, wie sehr die Geschlechtskategorien hier zu Zeichen werden, die mit dem biologischen Geschlecht nichts zu tun haben, eigentlich ganz im Sinne der postmodernen Queer- und Gendertheorien.
Das metaphorische Kapital des Katholizismus beruht auf Hingabe, Verzückung und einem sehr variabel einsetzbaren Geschlechterdualismus, weshalb sich dann auch Gustave im Roman beschwert, der Vatikan habe sich „bei aller marianischen Huldigung des als weiblich Kodierten schlechthin, bis heute, ... nicht einzuräumen gestattet, den dekonstruktiven Feminismus christlich zu umarmen. ... Kommt wahrscheinlich noch, meinte Concordia.“
Sampeln ist schön, aber reicht das aus? Bis Seite 200 ist Jungfrau vergnüglich und macht Spaß, doch irgendwann fallen die „narrativen Durststrecken“, die Meinecke im ausführlich zitierten Briefwechsel von Heloisa und Abaelard bemerkt, auf ihn selbst zurück. Das Ganze wird sehr anstrengend, nicht nur, weil einem der Durchblick völlig abhanden kommt, sondern auch, weil Sampeln nichts erklärt.
Das Keuschheitsgelübde Lothars bleibt letztlich ebenso beliebig wie seine Unsicherheit über dessen Grenzen, weshalb dann schließlich auch die suspense eher mager ausrinnt – Meinecke ist eben keine Jane Austen.
Sampeln erklärt auch nicht, worin eigentlich der Unterschied besteht zwischen katholischen Verzückungen und den postmodernen Lüsten. Manche Wissenschaftler halten die Vereinigung mit Christus „für sublimiertes sexuelles Begehren; allerdings scheint der Begriff Sublimation unpassend“, lautet eines der klugen Zitate im Roman.
Klaustrophobischer Gefühlsschwulst
Das katholisch passionierte Sich-Verzehren nach Jesus hat eine ungute Schlagseite, es ist fleischlich, doch es raubt den Körper, es verbietet Sex und verfolgt mit Liebe. Es ist nicht Sublimation, sondern „Transsubstantiation“ von Geschlechtlichkeit zu einem klaustrophobischen Gefühlsschwulst, der mit den Versprechungen postmoderner Gender-Rebellen nicht viel zu tun hat.
Nein, die marianischen Huldigungen und die postmodern lustig klingenden katholisch geschlechtlichen Verdrehungen werden nie und nimmer zu einer befreiten queerness führen. Denn dazu gehört gelebter Sex, ein wirklicher Körper, Eros als Triangel, nicht die zur Agape gereinigte symbiotische Einheit mit Jesus.
Eros beruht auf der Hoffnung, man könne das trennende Hindernis überwinden. Das katholische Keuschheitspathos dagegen pervertiert die süße Unmöglichkeit ins verrückt machend Unendliche. In diesem Sinn kann man nur hoffen, dass Lothar und Mary Lou doch noch ordentlich miteinander ins Bett steigen, auf der letzten Seite des Romans oder eben jenseits des Buchrückens.
Jungfrau Thomas Meinecke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 347 S. 19,80
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.