VERLIEBTE LIEBE UND PROMOVIERTES ELEND Zwei Debüt-Romane über lesbische Liebe in harten Zeiten: Karen Tulchinskys "Liebe und andere Irrtümer" und Susanne Billigs "Ein gieriger Ort"
Hohe Literatur erwartet man nicht. In den letzten Jahren sind Veröffentlichungen schwulen und lesbischen Inhalts mit der Zahl der entsprechenden Kleinverlage und der Nachfrage rasant gestiegen. Wo früher einige wenige Klassiker im Angebot waren und man außer Djuna Barnes Nightwood und Patricia Highsmiths Carol kaum einen Titel mit Inhalt Frauenliebe zu nennen wusste, ist jetzt der Lesbenroman fast zum eigenständigen Genre geworden. Überschaubar ist das Schriftwerk der jungen oder hierzulande noch unbekannten Autorinnen schon lange nicht mehr. Zum festen Setting dieser Szeneliteratur gehört - fast immer - die starke Protagonistin, die lesbische Subkultur, ein coming out hier oder da, Beziehungsstress und die verliebte Liebe. Ergo: ohne Kitsch kommt das Genre ni
ch kommt das Genre nicht aus. Und das ist gut so. Liebesgeschichten, homo- wie heterosexuelle, brauchen Nachsicht.Ein Roman der Kategorie "nett zu lesen" ist der Erstling der Kanadierin Karen Tulchinsky Liebe und andere Irrtümer (im Original: Love ruins everything). Ganz so leicht-lustig-harmlos, wie der Titel es androht, ist das Buch Gott sei Dank nicht, es bringt schon ein bisschen mehr auf die Waage.Nomi Rabinowitch, eine kleine Butch-Lesbe, die sich ihren Lebensunterhalt als Barfrau in San Francisco verdient, muss der grausamen Wahrheit ins Gesicht sehen, dass ihre Freundin sie betrügt - mit einem Kerl. Schnell findet die Beziehung ihr Ende, wir erleben Nomi in hoffnungslos depressivem Trennungsschmerz und bei einigen fruchtlosen Versuchen, sich über den Verlust ihrer Geliebten hinweg zu trösten. Schließlich fliegt sie zur zweiten Hochzeit ihrer Mutter in ihre Geburtsstadt Toronto und gerät Hals über Kopf in eine abenteuerliche Aufklärungskampagne um die Entstehung von Aids.Das Ganze ist vordergründig ein selbstironischer Beziehungskrisenroman, mittelfristig ein kleiner Krimi, doch eigentlich, in den stärksten Passagen, eine Familiengeschichte. Die Heldin kehrt in Toronto heim zu ihrer jüdischen Familie. Tulchinsky beschreibt amüsant und präzise jenen offensichtlich typisch jüdischen Eltern-Kind-Dialog, in dem der Nachwuchs mit der überbordenden, beschützenden, aber ignoranten Elternliebe ringt. Natürlich klingelt die Mutter Nomi in jeder nur erdenklich falschen Situation mit besorgten Telefonaten aus dem Bett und natürlich will sie beharrlich von ihrer einzigen Tochter in Fragen der Hochzeitsgarderobe beraten werden, ohne zu begreifen, dass Lesben so etwas nun wirklich nicht können. Gelungen und zum Teil äußerst komisch sind auch die Schilderungen der diversen Familienfeierlichkeiten.Das Buch gewinnt zudem durch einen Perspektivwechsel. Nach der ersten Hälfte des Romans wandelt sich die Ich-Erzählerin Nomi zum Ich-Erzähler, der Faden der Geschichte wird passagenweise von Cousin Henry übernommen, der an Aids erkrankt ist. So wird Nomi aus der Sicht ihres schwulen Cousins beschrieben und er umgekehrt aus der Perspektive seiner lesbischen Cousine. Auch eine Art von - schwul-lesbischer - Familiengeschichte. Ohne Kitsch, wie gesagt, geht es nicht, und natürlich kommt für Nomi in Toronto auch eine neue weibliche Bekanntschaft ins Spiel. Alles wird doch immer wieder gut.Schwerer, deutscher, sehr (west-)berlinerisch und ungleich ungewöhnlicher ist Susanne Billigs Roman Ein gieriger Ort. Sieben Protagonistinnen, alle selbstverständlich lesbisch, wirft Billig wie ein loses Netz über die Stadt Berlin. Das Buch wirkt zunächst wie eine Sammlung mit auseinandergerissenen Kurzgeschichten, es folgt willkürlich mal der einen, mal der anderen. Doch die Linien laufen bei fortschreitender Lektüre immer weiter zusammen, die Wege der Protagonistinnen kreuzen sich, das Netz wird dichter, ohne dass es sich vollständig schließt.Eine der Frauen ist Maria, die sich seit Jahren sich in Büchern versteckt und an ihrer Empörung über den Kapitalismus fast erstickt. Sie wird einer Liebe glauben, die sich in furchtbarer Weise als trügerisch erweist. Eine andere ist Konstanze, die sich eine Nutte zur Geliebten nimmt. Die Biologin Etta, die nur ihrer Freundin Giovanna zuliebe promoviert, verfolgt aus existenzieller Langeweile eine unbekannte Frau und wird ihr schließlich eine Sexualität schenken, die alle Regeln sprengt. Giovanna wiederum, selbst Professorin, schweigt über ihren Brustkrebs, um Etta die Promotion zu ermöglichen.Lustig ist das alles nicht. Es geht um beschädigtes Leben, um die Unmöglichkeit von Beziehung und die Suche nach Glück natürlich. Jede der beschriebenen Frauen hat ein Geheimnis und ein Schicksal, das sich erfüllen wird, für jede gibt es - wie in der Novelle - ein unerhörtes Ereignis, das eine Wendung hervorruft.Und alles spielt in einem Milieu, das für Berlin so typisch ist und das man kurz "promoviertes Elend" nennen könnte. "Wie aussichtslos das alles war. Hier gab es so viele, die nichts zählten und nur am Rande mitvegetierten, und sie gehörte dazu. Geflügelte Ratten. Alkoholisierte Nachbarn. Frauen mit Doktortiteln, die Videobänder über einen Plastiktresen schieben. Jungs in billigen Turnschuhen. Künstlerinnen, die mit Anfang zwanzig ahnen, daß sie vielleicht schon am Ende sind." Ein Leben während oder nach dem brotlosen Studium, ohne große berufliche Karriere, aber mit Büchern im Kopf, so sehen Billigs Frauen größtenteils aus. Im Kokon intellektueller Askese gegen den Rest der Welt lässt sich nur in Kreuzberg leben.Ein gieriger Ort ist melancholisch, aber gut geschrieben. Die Geschichten üben ihren eigenen dunklen Sog aus, ziehen ins Geschehen hinein und sie sind dicht, vielleicht sogar zu dicht. Billig hätte gut daran getan, ein oder zwei Personen weniger ins Ensemble aufzunehmen, denn jede für sich ist intensiv und - man kann das mögen oder nicht - sehr reflektiert beschrieben. Billig lässt ihre Figuren wenig frei agieren, sie hält erzählend die Fäden in der Hand und liefert in der Beschreibung die Erklärung gleich mit.Im Genre Lesbenroman ist das Buch eine interessante Variante, vor allem, weil es anderes im Visier hat, als die üblichen verliebten Geschichten. Aber natürlich geht es hier um Liebe, um reichlich viel Sex, und natürlich schrammt Billig an etlichen Stellen hart am Kitsch vorbei, das muss so sein. Denn auch in Berlin wird alles - ein bisschen - gut.Karen X. Tulchinsky: Liebe und andere Irrtümer, Quer-Verlag, Berlin 2000, 286 S., 39.80 DMSusanne Billig: Ein gieriger Ort, Orlanda Frauenverlag, Berlin 2000, 156 S., 29,80 DM
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