Ich hab drei mal drei Karten für Bayreuth“, sang mein Bruder. Es war März. Tänzelnd legte er sich den ellenlangen Billet-Leporello wie eine Federboa um den Hals, wand seine nicht unbeträchtliche Größe galant in eine pittoreske Schraube und hauchte: „Kommst du mit?“ Im März kann man schon mal ja sagen, hat man aber bis Juli nicht wieder nein gesagt, wird die Sache ernst, vor allem in Form der für Bayreuth ja wesentlichen Frage: „Was zieh ich an?“
Wir würden also eine kleine Homo-Mannschaft bilden. Mein Bruder, sein Gatte (beide Berlin) und ich (Wien). Und das Ganze mit einer Radtour und einem Besuch bei unserer im Fränkischen lebenden Mutter verbinden. Mail meines Bruders: „Samstag Treffen in Würzburg. Sonntag 49 km an der schönen blauen Tauber, Mittagessen mit Mami. Dann weiter Richtung Bayreuth, insgesamt noch mal rund 230 Kilometer. Dienstag Ankunft in Pension Schöne Aussicht (Donndorf). And then: ‚dress up‘ – 18 Uhr Holländer.“
Neben dem Mittagessen war das zweite Beunruhigende an der Mail das „dress up“. Denn klar ist, dass man gegen schillernde schwule Jungs nicht ankommt, mit keinem Lesbenoutfit der Welt. Was also zieh ich an? „Sehr einfach“, riet mein Friseur, auch homo und natürlich Opernliebhaber: „Da nimmst ein leichtes Viskosekleid, das lässt sich kleinfalten, musst es einfach nur aufschütteln, fertig.“ Bügelfrei eben und geschlechtskonform. „Eine Figur ist ja auch da“, fügte er mit wohlwollend an mir herunterwanderndem Blick hinzu. Ach, schwul müsste man sein.
Wenn man Bayreuth von Würzburg aus mit dem Fahrrad ansteuert, muss man ziemlich lange durch deutsche Gülle radeln. Es geht durch landwirtschaftliches Industriegebiet, und selbst die auf der Karte so schön verzeichnete Seenlandschaft im Aischtal ist bei genauer Betrachtung nur eine Ansammlung von brackigen Karpfenteichen. Es war heiß, sehr heiß. Nach zwei Tagen wollte meine Reisebegleitung den in regelmäßig kurzen Abständen ausgestoßenen Seufzer nicht mehr hören, Österreich sei aber schöner. Ich ließ aber erst davon ab, als wir endlich die Fränkische Schweiz erreichten.
Wagners Tuntenball
Dann Bayreuth, Anfahrt zum Grünen Hügel. Weil unsere Pension einige Kilometer außerhalb lag, musste das „dress up“ im kleinen Park vor dem Festspielhaus stattfinden. Ich habe kein Viskosekleid, muss ich jetzt gestehen, ich besitze fast überhaupt kein Kleid. Was ich habe, ist ein Dirndl – rote Rosen auf schwarzem Grund – das kam hier zum Einsatz. Und eine vom Verkäufer damals als Kassettenkleid angepriesene enge, blaue Röhre mit weißen Tupfen, die ich bislang exakt erst ein Mal im Leben getragen habe, weil man ohne fremde Hilfe weder in sie hinein- noch später wieder aus ihr herauskommt. Ich hielt also im Parkgebüsch die Luft an, während mein Bruder den seitlich liegenden Reißverschluss der Röhre hochzippte. Den erstaunten Wagnerianern, die an uns vorbei zum Festspielhaus pilgerten, rief er zu: „Wir ziehen uns nur rasch um, wir kommen auch gleich.“
Ehrlich gesagt: Auf dem Grünen Hügel war ich im Dirndl und der Kassettenröhre durchaus angemessen, alle sind hier irgendwie verkleidet. Bayreuth ist ja ein Kostümfest erster Güte. Die Herren in Smoking und mit Fliege. Die Damen mal schwarz, meist aber bunt bedruckt in phantastische Asymmetrien gewandet. Natürlich geht es nur so und nicht anders herum. Niemals könnte sich ein Mann hier schulterfrei zeigen, eher schon eine Dame mit Krawatte, so wie es ja auch sogenannte Hosenrollen für Frauen in der Oper gibt, aber heute keine Rockrolle mehr für Männer. Die Opernwelt ist die Brutstätte einer irgendwie queeren Heterosexualität. Fest gefügt ist hier die Zweigeschlechtlichkeit, doch so überzeichnet, dass sie zum Theater wird. Behängt mit überdeutlichen Signalen der Weiblichkeit, könnten manche Damen perfekt als Transsexuelle durchgehen – im Park gibt es auch eine schwule Cruising-Area, wie man mir erklärt.
Richtig schöne Menschen sind unter den Besucherinnen allerdings selten. Die Gesichter und Körper sind gezeichnet vom Preis, den der Erfolg kostet oder die Aufrechterhaltung seines Scheins. Im angestrengt gepflegten Dahinwelken spiegelt sich grausam die zersetzende Wirkung fortwährenden Wohlergehens. „Bis du so weit bist, dass du dir die guten Karten leisten kannst, siehst du echt Scheiße aus“, stellte mein Schwager fest. Überhaupt war er, selbst im Anzug, enttäuscht über die dargebotenen Garderoben. Billig, billig, den Pfau gab’s nur als Kleideraufdruck, wo sind denn all die echten Federn?
Auf unserem Programm standen die drei romantischen Opern: Fliegender Holländer, Tannhäuser, Lohengrin mit schöner Steigerung von zweieinhalb Stunden ohne Pause, fünf beziehungsweise fünfeinhalb Stunden inklusive Pausen. Das ist, oben in der Galerie, vorletzte Reihe, sportlicher als Radfahren. An Platzangst darf man hier nicht leiden, einmal drin in den dicht besetzten, engen Reihen der Holzklappsitze, kommt man vor der nächsten Pause nicht wieder raus.
Bei Wagner wird viel gestorben, Frauenopfer ist das Thema dieser Opern. Der fliegende Holländer kann nur durch eine treue Gattin von seinem Fluch erlöst werden, Tannhäuser sumpft im heidnischen Venusberg herum. Und Lohengrin, der per Schwan kam, zieht am Ende mit Taube von dannen, und seine Elsa sinkt „entseelt“ in die Arme ihres immerhin wiedergefundenen Bruders. „Weh“, ruft die Menge.
Keine Frage, das ist höchster Kitsch. Wagners Regieanweisungen schrauben sich in Gefühlsräusche hinein, in „brünstige Gebete“, „seliges Erstaunen“, „keusches Glühn“, „begeisterte Rührung“, „wilde Verzückung“. Man kann viel gegen den Meister ins Feld führen, sein überzogenes Pathos, seinen Germanenkult, seinen Antisemitismus. Aber diese Musik!, heißt es dann immer. Das ist das meistzitierte Argument gegen alle Wagner-Kritik. In Bayreuth müsste man noch hinzufügen: Aber die Inszenierungen! Denn die sind – wie auch die Darsteller – schlicht hervorragend und rütteln mächtig an der Wagnerkruste.
Ganz großes Theater
Das Bayreuther Festspielhaus hat nämlich zwei Bühnen. Eine ist draußen, vor dem Festspielhaus, wo sich bröckelnde Bürgerlichkeit in den Pausen mit überteuerten Bratwürstchen stärkt. Die zweite Bühne aber ist innen, wo die Inszenierungen in absoluter Text- und Tontreue komplett gegen Wagner laufen. Der fliegende Holländer kommt als Bankier mit Rollköfferchen, die Wartburg ist ein Maschinenraum, und Tannhäuser wird von phantastischen Tierchen bedroht, bei denen man nicht weiß, ob sie nun riesige Kaulquappen oder doch Spermien darstellen sollen. Beim Lohengrin tanzen die Ritter und das Volk als durchnummerierte Ratten, und der neue Führer Gottfried schlüpft als missgebildet schleimige Neugeburt aus dem Schwanenei: „Seht da den Herzog von Brabant, zum Führer sei er euch ernannt.“
Wagners Ironielosigkeit ist ein gefundenes Fressen für Regisseure. Der Tannhäuser in der Regie von Sebastian Baumgarten ist durchgängig gegen den Text inszeniert. Die reine Elisabeth spielt mit Schmuck und Tand, Venus ist von Tannhäuser schwanger. „Der Gnade Heil ist dem Büßer beschieden, er geht nun ein in der Seligen Frieden“, singen die Pilgerchöre zum Schluss und reichen sich dabei das Venus-Kind weiter.
Genug Geld für die wirklich besten Stimmen, das beste Orchester und gigantisch aufwendige Ausstattung ist vorhanden. Die Lohengrin-Inszenierung von Hans Neuenfels ist ein ästhetisches Fest, gut austariert zwischen Anerkennung und Distanz. Alles ist visuell perfekt gestaltet bis hin zu den Absteppnähten an den menschengroßen Rattenkostümen und den massigen Rüschenkleidern, mit denen sich die weiße Elsa und die schwarze Ortrud auf spiegelglattem Boden wie zwei furienhafte Wischmops umschweben. Der angeblich weltbeste Lohengrin-Interpret Klaus Florian Vogt singt so glasklar noch zwei Nummern besser als die anderen Sänger, dass man ihm seine göttliche Herkunft wirklich abnimmt. Das ist großes Theater, große Oper, gigantisch, und dafür, finde ich, zieht man sich ruhig mal ein Dirndl an. Zuletzt bin ich also doch noch Bayreuth-Fan geworden, so scheint es. Im Park ziehen wir uns wieder um und rollen radelnd an den langen Autoschlangen vom grünen Hügel herab.
Wer nach Bayreuth fährt? Nicht nur die Reichen und Erfolgreichen, auch die kleinen Bürger mögen das. Sie wollen was vom Glanz abhaben und vielleicht die Kanzlerin sehen, die, – so zumindest raunte man oben auf der Galerie – beim Lohengrin zwei Etagen unter uns gesessen habe. In unserer Übernachtungspension wohnte eine Großfamilie aus dem Rheinland. Der Vater nannte sich Wagnerianer und schmuggelte zu jedem der drei Tannhäuser-Akte jeweils ein anderes Familienmitglied ins Festspielhaus. So sahen Frau und Söhne wenigstens ein bisschen was. Die Großmutter freute sich: „Ich hab den ganzen Lohengrin gekriegt.“ Nur die Ritter als Ratten, „erklären Sie mir das mal?“, das hat sie nämlich nicht verstanden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.