Vor rund zwei Wochen erhielt die unheilbar kranke Britin Diane Pretty vom Europäischen Gerichtshof die Absage für ihren Antrag, sich rechtmäßig von ihrem Mann töten lassen zu dürfen. Er freue sich natürlich, dass er jetzt noch ein wenig länger mit seiner Frau zusammenbleiben könne, sprach der potentielle Sterbehelfer in die Presse-Mikrofone; er - eine Marionette zwischen den Todeswünschen seiner Frau und der öffentlichen Moral - spiegelte die Absurdität, ja Obszönität, des gesamten Verfahrens. Absurd ist, dass hier eine todkranke Frau das Gesetz anruft, um für sich einen Status zu erbitten, in den wir nach Giorgio Agamben immer Gefahr laufen zu geraten: den Status des "homo sacer", eines "nackten Lebens" das straffrei getötet werden darf.
Keine Frage, Homo sacer, bereits 1995 im italienischen Original erschienen und jetzt ins Deutsche übersetzt, ist ein großer Wurf. Es ist das Buch, das Michel Foucault hätte schreiben müssen, wenn er weiter an dem Gedanken der "Biopolitik" gearbeitet hätte. Agamben führt das bei Foucault nur dunkel erwähnte Thema fort, und er fügt es mit Motiven aus Hannah Arendts Totalitarismus-Analyse, Theoremen Carl Schmitts, Walter Benjamins und Jean-Luc Nancys so zusammen, dass sich die vernichtende These ergibt, es bestehe eine "innerste Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus". Er behauptet, dass abendländische politische Gemeinschaften nicht auf Gesellschaftsverträgen, sondern auf "Bann" beruhen, und dass das Lager - Auschwitz zuallererst und inbegriffen - das politische Paradigma der Moderne sei.
Agambens Argumentation ließe sich grob in vier Schritten zusammenfassen. Sie beginnt mit der Unterscheidung zwischen zoé (nacktes Leben) und bíos (politisches Leben), zên (leben) und eû zên (gut leben) im griechisch-antiken Denken. Hier sucht Agamben den Ursprung der abendländischen Politik und, so scheint es, den Ursprung einer Katastrophe. Der zweite Schritt dient - in starker Anlehnung an Carl Schmitt - der Analyse der "Souveränität". Der Souverän konstituiert ein Gesetz, ohne ihm selbst unterworfen zu sein, er steht am Anfang und daher außerhalb der Norm und ist doch in der Form der "einschließenden Ausschließung" mit ihr verbunden. Agamben betont immer wieder die paradoxe Struktur dieser "Schwelle", einer Sphäre, in der Recht und Gewalt, Regel und Ausnahme ununterscheidbar zusammenfallen. Eine parallele Figur zum Souverän findet Agamben am anderen Ende der Machtskala im "homo sacer". Dies ist der dritte Schritt der Argumentation. Der homo sacer, eine eher marginale Figur des römischen Rechts, bezeichnete einen Menschen, der "getötet, aber nicht geopfert" werden konnte. Eine Ausnahme ist also auch er, ein Todgeweihter im diffusen Raum, einer, den wir vogelfrei nennen würden. Dieser "Wolfsmensch" aber, sagt Agamben, steht nicht wirklich außerhalb, er bildet vielmehr das eigentliche Fundament des Politischen. Wir werden den "Souverän" und das "nackte Leben" nicht los, im Gegenteil, die Demokratie "schafft das heilige Leben nicht ab, sondern zersplittert es, verstreut es in jeden einzelnen Körper", die Ausnahme nährt auf eine fundamentale Weise die Regel.
Schritt vier der Argumentation führt zurück zu zoé und bíos. Wieder erhebt Agamben einen historischen Rechtstitel - die "habeas corpus"-Akte - zum logischen Paradigma. "Corpus ist das neue Subjekt der Politik", sagt er, was sich spätestens mit der Gründung der Nationalstaaten und dem Prinzip der "Nativität" als Kriterium der Zugehörigkeit bewahrheitet. Politik stützt sich nun auf den Körper, zoé und bíos schieben sich ununterscheidbar zusammen. Agambens eigentlicher Gedanke ergibt sich nun, indem er die Argumentationsschritte drei (die Ausnahme als Grundlage der Politik) und vier (Politisierung der Körper) verbindet: "Wenn Leben und Politik, die ursprünglich voneinander getrennt und durch das Niemandsland des Ausnahmezustands miteinander verbunden waren, dazu tendieren, identisch zu werden, dann wird alles Leben heilig und alle Politik Ausnahme." Mit anderen Worten: Politik wird als Biopolitik totalitär und produziert unablässig das "nackte Leben", das "Lager".
Homo sacer ist im betörend apokalyptischen Ton einer Verfallsgeschichte geschrieben, wie eine böse Saat geht die Vermischung von Ausnahme und Regel auf und zernagt die Demokratien von innen her. Wir müssen uns nicht wundern, wenn die Menschenrechte prekär werden: weil sie - weit entfernt davon, allgemeingültige Prinzipien zu sein - nur im Zusammenhang mit den Nationalstaaten entstanden sind und mit ihnen auch wieder zerfallen. Kriege, wie derjenige in Ex-Jugoslawien, sagt Agamben, seien keine "Rückfälle", sondern "vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den nómos der Erde ankündigen". Dass Agambens Analyse trotz ihres finster bedrohlichen Tones nicht vollständig paranoid erscheint, liegt daran, dass sie auf beeindruckend plausible Weise die Logik von Konzentrations- und Flüchtlingslagern, medizinischen Menschenversuchen und "biopolitischen" Maßnahmen, etwa Gesundheitsverordnungen, erklären kann. Er zeigt wie Staat und Medizin mehr und mehr zum Souverän der Entscheidung über Tod und Leben werden und er zeigt - auch hierin seherisch wie Foucualt - warum unsere ganzen moralischen Debatten nichts weiter sind als fruchtloses Ornament. Hinter unserem Rücken setzt sich eine gesellschaftliche Logik durch, die zu analysieren allemal verdienstvoller ist, als sie zu bejammern.
Wo aber wartet die Rettung? Agambens Aussagen sind nur dem einsichtig, der ihrer eigentümlichen Logik folgen will. Sein System stimmt nur, wenn man aus historischen Fakten - wie etwa der Konstruktion eines homo sacer - allgemein leitende Strukturen herauslesen, wenn man überhaupt an eine innere Entwicklungslogik von Geschichte glauben und seiner eigenartigen Verbindung von Politik und Metaphysik folgen will. In Agambens ganzer Argumentation bleibt unklar, ob denn der "Fehler" beim Aufbau der politischen Gemeinschaft hätte vermeiden können, und es bleibt unklar, ob der folgenreiche "Fehler" nun in der Trennung von zoé und bíos oder in der Vermischung der beiden Aspekte liegt. Eine Utopie ist bei Agamben nur an wenigen Stellen angedeutet, "das Sein jenseits des Souveränitätsprinzips denken" wäre das, eine "nicht-staatliche Politik", ein "Sein der Verlassenheit jenseits der Idee von Gesetz" oder "ein bíos, der nur seine zoé ist". Das alles bleibt reichlich dunkel.
Eines aber spricht sehr zugunsten Agambens: Wo postmoderne Theorie in den letzten Jahren politisch werden wollte, hat sie - auch das in der Folge Foucaults - sehr oft die Figur des Ausschlusses bemüht. Wenn Subjekte sich definieren, schließen sie notwendig andere aus. Die politische Forderungen war hier immer, diesen Prozess flexibler zu gestalten, auf die "Anderen" zu achten. Die Figur des Ausschlusses, eine Abwandlung des alten "onmis determinatio negatio", ist logisch, sie kann nicht falsch sein, aber sie ist auf eine ermüdende Weise trivial. Agamben greift zwar auf dieses Modell zurück, aber er fasst es als "einschließenden Ausschluss" wesentlich differenzierter. Er denkt nicht von der Konstitution der Subjekte, sondern vom Staat her, er beobachtet nicht die Subjektivierung sondern Ent-Subjektivierung, das nackte Leben, das potentiell in uns allen steckt. Die Frage nach der "Biopolitik" ist die Frage danach, wie Politik ins Leben, in die Körper eingreift. Wenn sie es so tut, wie Agamben beschreibt, ist Politik alles und alles ist Politik. Eine unheimliche Vorstellung.
Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 212 S., 10 EUR
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