Die Österreicher sind gnadenlos. Ihre SchriftstellerInnen produzieren Literatur von einer spezifischen Penetranz, als führen sie mit der Nähmaschine ratternd x-Mal über eine Naht, damit sie besser hält als der Stoff, oder mit dem Finger immer wieder über denselben Flecken Haut, bis das Fühlen wirklich weh tut. Thomas Bernhard steht für dieses Prinzip der Literatur als zwangsneurotischer Veranstaltung, Elfriede Jellinek, der Regisseur Ulrich Seidl. Und auch Marlene Streeruwitz kann in diesem Sinn als eine Vollblut-Österreich-Literatin gelten. Sie zerschlägt die Sprache in kurze, atemlos fragmentarische Sätze. Immer, immer, immer wieder. Jeder Punkt sei ein Würgemal, hat Streeruwitz einmal gesagt, und so würgt er den Fluss ab, zerfetzt den Text. In Verführungen und dem hervorragenden Roman Partygirl ist kaum ein Satz länger als eine halbe Zeile, und unwillkürlich beginnt man beim Lesen zu experimentieren: wie schell muss ich sein, damit sich ein Ganzes bildet über die Würgemale hinweg?
In Jessica, 30 gibt es kaum einen Punkt. Drei Teile hat dieser nicht sehr lange Roman, und der erste und dritte sind komplett innerer Monolog, punktlos hinausgewürgt könnte man sagen. Doch auch hier gibt Streeruwitz nur hektisch aneinandergefetzte Gedankenstücke, die Verben fehlen, und man mag sich nach dem Monolog der Molly Bloom in James Joyce Ulysses sehnen, nach Mollys fließend-sinnlichen, schlaftrunkenen Einfällen. Doch diese Zeiten sind vorbei.
Jessica ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, freie Autorin für ein Frauenmagazin, und die Angst sitzt ihr im Nacken: aus ihr muss etwas werden. Deshalb joggt sie. Jessica hasst das, aber sie muss joggen, um sich gut zu fühlen. Das ist die Logik der Lust im 21. Jahrhundert. "50 Minuten laufen ist ja auch keine große Leistung, meine Liebe, eigentlich ist das eine Grundvoraussetzung und manche Leute tun das jeden Tag ... ich laufe ja nicht einmal die ganzen 50 Minuten, ich spaziere nach 43 Minuten wieder herum und fühle mich heilig und bin schon stolz aber gequält habe ich mich da nicht ... brav warst du, wirklich brav, meine Liebe, brav, nicht toll brav, aber brav brav und jetzt weiter, die Haare müssen trocken sein, ich will ja nicht verhetzt zur Claudia kommen."
Der Roman ist die beklemmende Innenschau einer einzigen Zurichtung durch sich selbst. Zwar kennt die promovierte Jessica ihren Foucault und die postmoderne Gesellschaftskritik, doch Theorie nutzt dem Leben nicht: Jessica ist beherrscht vom Sündenfall Maple Walnut mit Schlagobersbergen, von fehlender Sexlust, von den Angora-Fusseln auf der Jacke, der Farbe des Lippenstifts und dass sie sich jetzt auf jeden Fall gut fühlen muss, um selbstbewusst rüberzukommen. Die (post)moderne Frau steht unter permanenter disziplinarischer Beobachtung, doch das Panoptikum ist innen. "Selbst die Obstmesser verlassen dich, das sollte doch zu denken geben."
Der Monolog ist bisweilen komisch, meistens aber tragisch, und er klebt, schreibt sich ein ins Hirn, noch Stunden nach der Lektüre hört man sich selbst wie Jessica reden, und wenn das so bliebe, wäre der Roman unaushaltbar. Doch wie immer gelingt es Streeruwitz, einen Suspense herzustellen, inmitten der Penetranz ihres Stils eine Geschichte zu erzählen, die zum Weiterlesen zwingt. Nun also tritt der Mann auf, das Schwein. Jessica hat eine gelangweilte Affäre mit Gerhard, einem Staatssekretär. Eigentlich will sie diese Liebschaft einschlafen lassen, doch ihre Chefin Claudia bringt sie dazu, die Sache zu journalistischen Recherchezwecken noch ein einziges Mal zu beleben. Zurichtung auch hier, keine weibliche Karriere geht ohne Vergewaltigung ab; und es ist unglaublich, wie akribisch Streeruwitz das aus der Perspektive von Jessica beschreibt. Im letzten Teil mutiert die kleine Journalistin dann zur großen Rächerin - doch ändern wird sie sich nicht.
Wie immer geht es geht es subtil brutal zu bei Streeruwitz, wie immer geht es um weibliche (Selbst-)Verletzung, diesmal am Beispiel einer jüngeren Generation, die die drei klassischen Ks - Kinder, Küche, Kirche - durch modernere ersetzt hat: um Körper, Karriere, Koitus dreht sich jetzt alles. Nichts hat sich geändert im Frauenleben: Jessica spielt dem Gerhard jeden Orgasmus nur vor. Alles hat sich geändert: Es macht ihr Spaß, den Orgasmus vorzuspielen. "Ich kann es nicht aushalten, wenn einer beschließt, er wird mich jetzt befriedigen, da fühle ich mich erst richtig unterdrückt." Auf paradoxe Weise haben sich die alten feministischen Forderungen erfüllt und in ihr eigenes Grauen verkehrt; irgendwas ist schief gelaufen.
Ist es schief gelaufen? Streeruwitz will die sogenannte "Generation Ally" (benannt nach der Fernsehserie Ally McBeal) aus der Innenperspektive sehen, doch es ist nicht ihre eigene Generation. Die Wut, mit der sie die Zurichtung schildert, und die Wut von Jessica ist - vermutlich - eine ältere. Passt sie zu den heute 30-Jährigen? Streeruwitz ist keine platte Feministin, sie weist klar auf die Ambivalenz und die Mittäterschaft von Frauen hin, aber sie erzählt auch noch den Plot vom fiesen Gerhard, die alte Geschichte von der Korruption durch die patriarchale Macht und der Ohnmacht derer unten. Ach, was täte der Feminismus ohne seine Herrenreiter. In Österreich, wo alles so eng ist, ist die Front noch klar. Ohne diese Front hätte Streeruwitz sich bei Jessica, 30 auf die Beschreibung einer Selbstdressur unter dem Druck der Vermarktung beschränken müssen, also das erste Kapitel fortschreiben bis in alle Ewigkeit. Das wiederum hätte einen furchtbaren Roman ergeben, unaushaltbar wie das Leben selbst.
Marlene Streeruwitz: Jessica, 30. Roman. Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2004,
18,90 EUR
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