Maria, hilf!

Weiblicher Körper Der Himmel ist Phantasie, die Erde Fiktion und im Keller waltet das Reale: Charlotte Roches "Feuchtgebiete", die Tochter von Josef F. und die neuen Louis-Vuitton-Handtaschen

In Österreich hat Charlotte Roches intime Betrachtung ihrer ureigensten Feuchtgebiete keine große Debatte ausgelöst. Hier lebt man sowieso im Sumpf. Und dass alle möglichen Schleimigkeiten herauskommen, wenn man nur genau in der ungewaschenen Unterhose oder diversen Hautfältelungen nachschaut, findet man im Land Elfriede Jelineks weder erstaunlich noch weiter erwähnenswert. Natürlich rangieren die Feuchtgebiete auch in Österreich auf Platz eins der Bestsellerlisten - aber die aufgeregte Diskussion um einen möglicherweise körperbefreienden Effekt des Romans nebst neuem Feminismus ist einzig einer typisch (west-)deutschen Hygiene- und Diskurskultur zu verdanken. Die funktioniert immer nach dem Prinzip des Mach-Dreck-und-wisch-Weg, während man in Österreich ganz andere Probleme hat und hide and seek inszeniert, ein nationales Spiel, das ausgiebig und mit erheblichem libidinösen Aufwand betrieben wird.

Damit wären wir beim Thema, das nicht Charlotte Roche heißt. Denn über deren Roman ist nicht viel zu sagen außer: Neu ist das nicht, gut ist das nicht, langweilig ist es, und wem es Spaß macht, die Nase gaaanz tief im analen Blumenkohl der im Krankenhaus Maria Hilf dahinblutenden Protagonistin Helen Memel zu versenken, bitteschön - aber man muss nicht noch viele kleine sauber verkaufbare Diskurshäufchen um das Buch herum aufbauen. Die Frage, weit hergeholt und unpassend, wäre vielleicht eher: Was haben Charlotte Roches drastische Leibesschilderungen mit dem Fall F. im österreichischen Amstetten zu tun, dem Fall also, gerade ans Tageslicht gefördert (hide and seek), in dem ein Vater seine Tochter 24 Jahre lang in einem Verlies unterhalb seines Wohnhauses einsperrte, missbrauchte, sieben Kinder mit ihr zeugte, von denen drei, obwohl geboren, noch nie das Licht der Welt erblickt haben? Was hat das miteinander zu tun und mit der Frühjahrskollektion der neuen Handtaschen von Louis Vuitton, sehr schön in der Vogue beworben? Anders gefragt: Was geschieht eigentlich mit dem weiblichen Körper am Anfang des 21. Jahrhunderts - wo ist sein Ort?

Anfangen sollte man mit dem saubersten der drei Beispiele: den neuen Handtaschen des Frühjahrs. Die sind riesig, und die Damen, die für sie werben, liegen in schwebendes, leichtes Gewand gehüllt, hingegossen, vorzugsweise auf einem Auto, die Beine und die Lippen leicht gespreizt, als wollten sie sagen: "Vergewaltige mich ruhig, aber meine Handtasche lass´ ich nicht los." Früher hätte man gesagt, das ist sexistisch. Wahrlich, wahrlich, es ist sexistisch. Nur: Sexismus ist nicht mehr das Problem. Er ist so allgegenwärtig und, in der Werbung für Luxusgüter zumindest, derartig ins dekadent Surreale überhöht, dass er allenfalls noch dubiose ästhetische Gelüste befriedigt. Die abgemagerten Models, cool und kantig, sind ein wohl kalkuliertes Gemisch aus fragilen, morbiden, aggressiven und schmusekatrigen Elementen. Die Bilder spielen mit allem: Pädophilie, Sadomasochismus, Essstörung, Pornografie, aber es geht hier nicht mehr um Sex - der geschlechtliche Körper ist vollkommen zum Dekor entrückt, zum wunderbaren Träger fetischisierter Accessoires. Mit traditioneller feministischer Kritik kommt man hier nicht weiter, denn nichts davon ist wirklich - außer den Produktionsbedingungen solcher Werbung, aber das ist ein anderes Thema. Der reale Körper verschwindet, weggehungert. Wo ist er? Im Keller? Vater F., so lässt sich vermuten, hat die Vogue-Werbung nicht als Wichsvorlage benutzt. Das zumindest wäre doch ein gutes Zeichen.

Voyeurismus ist der Blick, bei dem die Distanz an der falschen Stelle sitzt - "parasitäres Wegschauen" nennt Franz Schuh das, "wenn man sehr gerne weiß, was die anderen treiben, und sich an diesem Wissen partiell sogar aufgeilt". Zum Voyeurismus gehört immer auch Wegschauen, Verschweigen, man delektiert sich an gewissen, den falschen Details. Um Missbrauch, Voyeurismus und Exhibitionismus drehen sich Charlotte Roches Roman und der Fall Amstetten wie um eine gemeinsame Achse. Die quasipornografischen Darstellungen in Feuchtgebiete sind eine Umkehrung, sie wirken wie Notwehrexhibitionismus - ich zeig´ euch all das, was ihr niemals wissen wolltet. Roche hat über die Protagonistin ihres Romans gesagt, die wolle "sich selbst stählen für irgendwelche Ernstfälle" - am besten man tut sich das Schlimmste gleich selber an, dann ist es halbwegs unter Kontrolle. Bloßes Opfer will heute keine mehr sein. Am Ende des Romans stellt die Protagonistin Helen Memel - rituell sozusagen - eine Kindheitsszene nach, das traumatische Erlebnis, als sie ihre Mutter beim Suizidversuch ertappte - ihre Mutter, die gerade dabei war, sich selbst und ihren Sohn, Helens Bruder, mit Gas ins Jenseits zu befördern. Ach ja, erinnern wir uns: Die deutschen Mütter entsorgen die Leichen ihrer Kinder gerne - mach den Dreck weg! - in Eisschränken oder Blumentöpfen. Sieht fast aus wie ein nationalpathologisches Pendant zum österreichischen Keller.

Immerhin - Feuchtgebiete eignet sich wenig als Vorlage für die Phantasien gewisser Herren, es verdirbt eher den Geschmack. Das zumindest ist ein gutes Zeichen.

Wie sieht der Körper der Tochter von Josef F. heute aus? Eine Millionen Dollar sind für das erste Bild der Keller-Kinder geboten. Nicht für das der Tochter? Die Polizei schüttelte Reporter aus den Bäumen vor dem Krankenhaus, in dem sich die Opfer aufhalten, so schreibt das Käseblatt Österreich gewiss aus eigener Erfahrung. Wie sieht der Körper der Tochter von Josef F. aus, wie fühlt er sich an, fühlt er noch? Man kann es sich nicht vorstellen. Man kann sich nur vorstellen, dass Josef F. die letzten Ressourcen an Fühlsamkeit aus seiner Tochter - und seinen Enkeln, warum fragt niemand danach? - herausgefickt, herausgehauen, herausgedroht hat. Wie sieht der Körper von Josef F.s Ehefrau aus? Alt, verwelkt, nicht gut genug. Auch die Tochter kam jetzt in das Alter, in dem man nicht mehr nur hübsch anzuschauen ist. Die Frequenz ihrer Schwangerschaften in den letzten Jahren jedenfalls ließ merklich nach. In der gesamten Berichterstattung über Amstetten geht es, vermutlich nicht nur aus Gründen des Opferschutzes, fast ausschließlich um ihn, den Täter und seine Taten. Der Körper der Tochter ist - schlimmerweise und Gott sei Dank - noch mit Tabu belegt.

Was haben die Handtaschen der Vogue-Models, Helen Memels Hämorrhoiden und Tochter F.s Leibesfrüchte miteinander zu tun? Alles, denn sie zeichnen sich durch eine schmerzhafte Fühllosigkeit aus, die das Charakteristikum des weiblichen Körpers zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu sein scheint. Wir wüssten derzeit nicht zu sagen, worin denn weibliche Sexualität besteht. Und nichts haben sie miteinander zu tun, denn das Weibliche ist zerstreut in alle Winde, es siedelt in unzusammenhängenden Paralleluniversen: Es siedelt im Himmel irrealer Dekadenzen, wo Hypersex sich in sich selbst auflöst und die Handtasche zum Riesenphallus mutiert, es siedelt auf Erden, wo man verzweifelt versucht, selbst zur Agentin der eigenen Verstümmelung zu werden und sich mit 18 rasch sterilisieren lässt (das rettet dich nicht, Helen Memel), und es lebt im Keller, wo der Hadesvater archaisch wütet mit Sex, Macht und blinder Fortpflanzung. Der Himmel ist die reine Phantasie, die Erde eine Fiktion mit Wirklichkeitskern, im Keller (der von den Medien gerne als die "Hölle" bezeichnet wurde) waltet das Reale. Es ist das, was wir uns am wenigsten vorstellen können.

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