Der Christopher Street Day (CSD) ist nicht mehr, was er einmal war. Heutzutage begleiten unzählig viele flirtende, sich küssende, Hand in Hand gehende Mann-Frau-Paarungen den Zug. Die heterosexuell veranlagten Menschen stehen nicht mehr nur als Zaungäste am Rand, sie machen mit und reihen sich ein. Neuerdings sieht man auch Lesben und Schwule in innigster Umarmung, so dass der Siegeszug der Homos insgesamt ein verwirrend heterosexuelles Bild abgibt.
Die Berührungsängste zwischen homosexueller und heterosexueller Welt sind offensichtlich dramatisch geschrumpft. Der CSD gilt in Berlin vielen als Vorübung für die Love Parade, "Party" ist das gemeinsame Dritte, das die beiden Veranstaltungen immer ähnlicher werden lässt. In diesem Jahr wird es eine SFB-Live- Berichterstattung geben, und der Satz "Ich bin schwul, und das ist auch gut so", wird zum Super-Slogan der homosexuellen Feiertage. Als der Berliner Neu-Bürgermeister Klaus Wowereit diese Worte kürzlich äußerte, erntete er frenetischen Applaus und bewies, dass ein beherztes Selbst-Outing heute zur genialen PR-Strategie taugt.
Was, um Himmels Willen, geht hier vor? Was ist heute noch "normal" und wie pervers sind eigentlich die Heterosexuellen?
"Pervers" galt bei Sigmund Freud als "Abweichung des Instinkts" in sexueller Hinsicht. Es ist fast unnötig zu sagen, dass es ein vollkommen "normales" Individuum nicht geben kann. Normal ist, was die Regel ist, der Konsens, an den die meisten sich halten. Die Norm ist weniger als die Summe ihrer Teile, sie ist Schnittmenge und sie ist Schnittmuster - die wärmende Decke, nach der wir uns zu strecken haben.
In der "Perversion" der Homosexuellen lag immer zweierlei: einesteils ein Leiden, am Rand zu stehen, nicht den vollen Status der Normalität ausschöpfen zu können, den die heterosexuell organisierte Gesellschaft ihren heterosexuellen Mitgliedern bereit stellte, und andererseits ein Glücksversprechen, denn Perversion bedeutete auch die Chance, dem Leiden am Normalen etwas entgegen zu setzen. Dies wäre das kritische Potential von Homosexualität.
Entsprechend dieser doppelten Gefühlslage - dem Wunsch nach Normalität und der Furcht vor ihr - spaltete sich auch die Homo-Szene in zwei politische Lager. Augenfällig wurde der Streit im prominent und bis zur Ermüdung diskutierten Thema der Homo-Ehe. Während die eine Fraktion mit der Berufung auf Bürgerrechte die Gleichbehandlung von Schwulen und Lesben fordert und damit auch die Möglichkeit, in den staatlich geschützten Stand der Ehe einzutreten, hält die andere Fraktion das Heiraten schlichtweg für eine Falle. Die Ehe, so sagen ihre Gegner, führe zu einer "Heterosexualisierung der Homos", und ihre Begünstigung geschehe auf Kosten anderer möglicher Beziehungsformen.
Der Streit der Fraktionen pro oder contra Ehe ist ermüdend und zu einfach auf beiden Seiten, und er ist ein Scheingefecht, da sich der Verdacht nicht ausräumen lässt, dass die Institution Ehe erst im Stadium ihres Untergangs als Recht für Schwule und Lesben diskutiert wird. Man hat das Gefühl, die abgewetzte Jacke der bürgerlichen Normalexistenz jetzt gütig second hand als Geschenk zu bekommen. Das ist keine Böswilligkeit: Es liegt in der Logik der Sache. Die westlichen Gesellschaften verlegen sich auf andere Ausgrenzungsformen, der Index "sexuelle Beziehung/Organisation der Fortpflanzung" ist als normative Gesellschaftsgröße offensichtlich nicht mehr ganz so wichtig.
Der eigentliche Affront der gleichgeschlechtlichen Sexualität liegt darin, dass sich mit ihr auf "natürlichem" Wege keine Kinder zeugen lassen, und dass sie die festgelegten Rollenklischees unterminiert. Doch die Güter "Fortpflanzung" und "Geschlecht" sind nicht mehr die unerschütterlichsten Kleinodien der postmodernen Gesellschaft. Seitdem Reproduktion vom weiblichen Körper trennbar und Geschlechtsrollen flexibler geworden sind, bröckelt auch der Schutzwall gegen die Verführung der Homosexualität.
Wer aber den Multimix der sexuellen Kulturen, die neue Homophilie als ein Zeichen dafür deutet, dass Schwulsein immer alltäglicher wird, hat nur die Hälfte verstanden. Das eigentlich interessante Phänomen ist die fortschreitende Pervertierung der Heterosexuellen. Sie liegt nicht zuletzt am Prinzip einer Ökonomie, die nicht mehr an Produktion, sondern an Konsumption ausgerichtet ist. Sex ist ein Verkaufsmittel. Mit der Sexualisierung des Kommerzes und Kommerzialisierung des Sexes wird auch die Perversion hoffähig. Einerseits braucht der Verkauf die Sensation des Besonderen, die Stimulation über starke Reize. Daher lieben die Talk Shows das Reden über Swinger-Clubs, Transsexualität und SM-Praktiken, und daher lieben die Zeitungen es, die Themen des normalen Lebens auf schwul oder lesbisch darzustellen.
Andererseits ästhetisiert der Kommerz den Sex auf eine Weise, die ihn jeder Gefahr beraubt. Geld ist ein Tauschmittel, und seine geheime Magie liegt darin, dass es die ausgetauschten Waren einander gleich macht. Das Gespür für Unterschiede stumpft ab, fast alles, so scheint es, lässt sich heute mit genügend Kapital zum mainstream machen. Geld stinkt nicht, und in Geld gewaschener Sex riecht frisch nach CK One, egal ob es sich um Praktiken mit Kot, Urin oder um die ganz normale Missionarsstellung handelt.
Das Prinzip des Kommerzes ist das Prinzip der Verschwendung. Was passt hier besser als die homosexuelle Maxime der Verschwendung von Sex ohne Risiko der Nachkommenschaft? Vor allem Schwule sind in den letzten Jahren zur umworbenen Zielgruppe geworden und sie prägen die gegenwärtige Werbeästhetik. In der Szene ist man stolz und lässt sich gerne ablichten, denn so absurd es klingt: Die Vermarktung von Homosexualität hat einen so machtvollen Integrationsschub ausgelöst, wie es keine politische Initiative hätte erreichen können. Sofern sie sich an gewisse Regeln halten, sofern sie schön sind, wohlhabend, psychisch und körperlich gesund, haben Lesben und Schwule genau den radical chic, der heute zum sexuell Attraktiven gehört. "Perversion", meint der slowenische Philosoph Slavoj Z?iz?ek, "ist nicht mehr subversiv".
So wird die Last des Andersseins zum lustvollen Verkaufsschlager. Doch je mehr man Besonderheit vermarktet - das ist die Ironie bei der Geschichte - desto mehr verschwindet sie. Der Januskopf der Perversion als Leiden und Kritikpotential scheint sich in leichterem Einerlei aufzulösen. Wir sind alle gleich, weil vieles möglich ist.
Selbst bei Debatten innerhalb der Homo-Szene sind keine wirklich erbitterten Fronten mehr abzusehen. Die Ehegegner und -befürworter streiten sich nicht wirklich, denn letztlich soll doch jeder nach seiner Fasson glücklich werden. Scharfe, alte Gegensätze gelten nicht, Kommerz kann progressiv auch Gutes tun, Heterosexuelle können ein bisschen homo spielen und umgekehrt, und das Private wird politisch in einem ganz anderen Sinn, als die alten 68-Revolutionäre es sich hätten träumen lassen.
Eindrucksvoll spiegelt sich diese weiche Tendenz der letzten Jahre in den Symbolen: Der schwule rosa Winkel und das lesbische doppelte Frauenzeichen sind der gemeinsamen Regenbogenfahne gewichen. Die ist fröhlich, ohne Aussage, beleidigt niemanden und hat eine atemberaubende Verbreitung erfahren. Der Regenbogen prangt auf Kaffeetassen, Hosenträgern, Ohrringen, Fußabtretern, klebt an allerlei Geschäften zum Zeichen, dass hier homosexuell gewirtschaftet wird, und ist das beste Beispiel dafür, wie ein unpolitisches Zeichen Politik machen kann.
Gegenwärtig gilt in der schwulen und lesbischen Welt ein nach vergangenen Denkverboten durchaus wohltuendes "anything goes". Die Transgender-Bewegung, die mit bärtigen Frauen, Butch-Femmme-Inszenierungen und Crossdressing eine Avantgarde bildet, geht friedlich einher mit einer neuerlichen Besinnung aufs eindeutige Geschlecht. Schwule Mode und schwules Bodystyling hat in den letzten 10 Jahren einen Testosteronschub sondergleichen erfahren, die Lesben zeigen sich in selbstbewusst inszenierter Weiblichkeit. Fast könnte man von einer Re-Genderisierung der Szene sprechen ob eine schwul-lesbische Disco in fünf Jahren äußerlich noch von einer "ganz normalen" zu unterscheiden sein wird, bleibt abzuwarten.
Auch steht die vehemente Biologismuskritik der Queer-Theory unvermittelt neben einem latenten Glauben an die Gene, der sich vor allem darin ausdrückt, dass bei Schwulen und Lesben eigene leibliche Kinder hoch im Kurs stehen. Und eine starke homosexuelle Identifizierung scheint kein Hinderungsgrund zu sein, heftig mit den Insignien der klassischen bürgerlichen Familie zu spielen. Die Agentur "Queer and Kids" in Berlin beispielsweise vermittelt Lesben und Schwule mit Kinderwunsch. Das Konzept dahinter ist ganz klar und fast CDU-kompatibel: Die kleine feine Familie mit zwei Mamas und zwei Papas für das Kind.
Klaus Wowereit hat gesagt "ich bin schwul" und alle haben geklatscht. Warum eigentlich? Unterstützen wollte man ihn, die Ehrlichkeit honorieren und den Mut, mit dem sich einer öffentlich zu seinen exotischen Vorlieben bekennt. Im Applaus für einen Schwulen kann man sich trefflich auch der eigenen Liberalität versichern. Der gute Mann hat seinen Satz allerdings gesagt, um einer "Schlammschlacht" im anstehenden Wahlkampf vorzubeugen. Und diese Schlammschlacht hätte es gegeben. Warum eigentlich?
Weil die schwule Normalität einen doppelten Boden hat. Scheinen die Grundfesten der Heterosexualität an einigen Stellen ernsthaft zu erodieren, so zeigen sie sich an anderen bombenfest. Die freundliche Toleranz im Rampenlicht ist an knallharte Bedingungen geknüpft und zeigt sich im Detail doch meistens kleinlich. Wie wenig wirklich tiefgreifend die Akzeptanz homosexueller Lebensformen ist, zeigt sich an dem Gezänk um die eingetragene Partnerschaft, an der Verweigerung des Adoptionsrechts für Schwule und Lesben und an den Richtlinien der Bundesärztekammer zur assistierten Reproduktion, die natürlich Lesben ausschließt. In-Vitro-Fertilisation ist nach wie vor der Bonus für heterosexuell verheiratete Paare, die sich redlich bemüht haben, auf natürlichem Wege Kinder zu zeugen.
Skepsis ist angebracht, ob nicht, wenn man nur tief genug bohrt, der Ekel vor der Gleichgeschlechtlichkeit wieder zum Vorschein kommt, der das heterosexuelle System stützt. Das freundliche Lächeln der Gesellschaft hat oft da seine Grenzen, wo die rosa Kaufkraft endet und ist an Bedingungen geknüpft, wovon eine lautet: Es darf nicht ausufern, zu viele dürft ihr nicht werden. Das weiß die Homogemeinde und testet ihre Grenzen aus. Zwar zelebriert man sich mit dem Motto "Pride", doch darunter ist die Scham noch nicht vergessen. Zur (verinnerlichten) Homophobie gibt es kein heterosexuelles Pendant.
So geben sich Norm und Abnorm die Hand. Auf der Ebene des schönen Scheins ist ihr Unterschied oft aufgehoben, denn Anderssein ist mittlerweile ganz normal, und irgendwie sind wir ja alle auch ein bisschen anders. Und doch funktioniert die Differenz.
Im Berliner Willy Brandt Haus war vor einem Jahr eine Fotoausstellung "Schwules Wohnen" zu sehen, geschmückt mit dem Kommentar, "dass die Wohnungen von Schwulen genauso gleich und verschieden sind wie die von Heterosexuellen." Diese und ähnliche Floskeln hat man schon tausendmal gelesen. Sie sollen beruhigen und sie sind auf tückische Weise falsch, denn sie leugnen den Unterschied, den sie setzen. Solange man Homosexuelle als Homosexuelle bezeichnet, und solange Klaus Wowereit gestehen muss, dass er schwul ist, sind Homosexuelle etwas anderes, und sie tun etwas anderes als die Heterosexuellen. Und das ist auch gut so.
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